Rezension über:

Gerhard von Scharnhorst: Private und dienstliche Schriften. Bd. 1: Schüler, Lehrer, Kriegsteilnehmer (Kurhannover bis 1795). Hrsg. v. Johannes Kunisch. Bearbeitet von Michael Sikora und Tilman Stieve (= Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz; Bd. 52,1), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, 864 S., ISBN 978-3-412-14700-6, EUR 99,00
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Rezension von:
Daniel Hohrath
Esslingen
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Daniel Hohrath: Rezension von: Gerhard von Scharnhorst: Private und dienstliche Schriften. Bd. 1: Schüler, Lehrer, Kriegsteilnehmer (Kurhannover bis 1795). Hrsg. v. Johannes Kunisch. Bearbeitet von Michael Sikora und Tilman Stieve, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 1 [15.01.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/01/3147.html


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Gerhard von Scharnhorst: Private und dienstliche Schriften

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Bei historischen Persönlichkeiten, die seit vielen Generationen gleich bleibend höchste Prominenz genießen, pflegt man in der Regel davon auszugehen, dass eine umfangreiche, zitierfähige Edition ihrer schriftlichen Hinterlassenschaft längst zur Verfügung steht. So kann man es als durchaus erstaunlich werten, dass dies für Gerhard von Scharnhorst (1755-1813) bisher nicht zutraf. Dies fällt umso mehr auf, als es in der deutschen Geschichte keinen Militär geben dürfte, der so ungebrochen von der Nachwelt geschätzt wurde. Gerade im 20. Jahrhundert wurde Scharnhorst als Held der Befreiungskriege, Vater der allgemeinen Wehrpflicht, Heeresreformer und Symbol der Verbürgerlichung des Militärwesens für ganz verschiedene politische Strömungen zum allseits geliebten Traditionsträger und Namensgeber, und das mit steigernder Tendenz vom Kaiserheer über die Wehrmacht bis in die Armeen der beiden deutscher Staaten, die geradezu um das Recht zur Scharnhorst-Verehrung buhlten. Die Berufung auf Scharnhorst sollte nach der deutschen Katastrophe zur Legitimation der neuen Streitkräfte dienen; die preußischen Heeresreformen wurden allseits als eine der wenigen unbelasteten Traditionen anerkannt.

So hat die Scharnhorst-Edition bereits eine lange Geschichte hinter sich, und zwar in der Tat eine ihres wiederholten Scheiterns. Nachdem die wichtigsten Biografen Georg Heinrich Klippel (1869/71) und Max Lehmann (1886/87) viele Quellen präsentiert oder zumindest extensiv zitiert hatten und Colmar von der Goltz in der Reihe "Militärische Klassiker" nur eine kleine Auswahl herausgegeben hatte (1881), gab es immer wieder Anläufe zu einer großen Edition. Eine Briefausgabe von Karl Linnebach blieb freilich mit dem ersten Band, der Scharnhorsts Privatkorrespondenz enthielt, 1914 stecken. Ihre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in den 1930er-Jahren geplante Fortführung und Erweiterung, an der Linnebach und Gerhard Oestreich arbeiten sollten, wurde vom Zweiten Weltkrieg gestoppt. In den beiden deutschen Nachkriegsstaaten erschienen dann einige Auswahlausgaben unterschiedlicher Qualität; eine umfassende Werkausgabe plante Walter Hubatsch seit 1983, deren Planungen Jahre nach dessen Tod in das derzeit laufende Projekt mündeten.

Was Michael Sikora und Tilman Stieve nunmehr mit dem ersten Band vorgelegt haben, lässt freilich alles Bedauern über die lange "Wartezeit" vergessen, vielmehr darf mit Fug behauptet werden, dass eine Edition auf diesem Niveau früher wahrscheinlich nicht entstanden wäre. Sie ist darauf angelegt, den gesamten handschriftlichen Nachlass zu erfassen, und - wie der Klappentext kündet - einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Auf jeden Fall wird sie die künftige wissenschaftliche Beschäftigung mit Scharnhorst und der Militärgeschichte jener Epoche des Umbruchs enorm erleichtern, ja, sie auf eine neue Grundlage stellen. Der Wert von gedruckten Editionen für die Praxis von Forschung und Lehre wie auch die Vermittlung wissenschaftlicher Gegenstände über den engen Kreis der archivstaubgestählten Spezialisten wird heute gelegentlich bezweifelt. Gerade eine Ausgabe wie die vorliegende sollte geeignet sein, derartige Kritik leiser werden zu lassen.

Bereits der erste Teilband, der nunmehr vorliegt, bietet einen Eindruck von der staunenswerten Materialfülle, die sich in der Edition entfaltet. In seinem dichten Einleitungsaufsatz "Spuren einer politischen Soldatenkarriere" würdigt Michael Sikora kurz die historische Rolle der Person Scharnhorsts, fasst die Geschichte der Rezeption seines Werks zusammen und gibt Auskunft über Quellenbestand und Methodik der vorliegenden Edition (IX-XXX). Den Grundstock bildet der - durch glückliche Umstände vom Untergang des Heeresarchivs Potsdam verschonte - Nachlass Scharnhorsts, der heute im Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem liegt. Erhebliche weitere Teile des Materials befinden sich im Hauptstaatsarchiv Hannover, viele weitere Schriftstücke sind aus weit verstreuten Beständen gesammelt.

Der vorliegende Band umfasst die ersten, bislang auch aus den Biografien nur unzureichend bekannten Phasen von Scharnhorsts Werdegang: erstens die Jahre als Schüler auf der Kriegsschule des Grafen Wilhelm von Schaumburg-Lippe 1773-1778, zweitens seine Zeit als Lehrer an kurhannoverschen Militärschulen (1778-1793), drittens die erste Feldzugsteilnahme als Artillerieoffizier 1793, viertens die Kriegserlebnisse bei der Verteidigung der befestigten Stadt Menin in Flandern 1793/94, fünftens die Dienstzeit im Stab des hannoverschen Generals Wallmoden 1794/95. Insgesamt sind 471 Dokumente wiedergegeben, bei längeren ist der Überschrift ein Inhaltsregest angefügt. Die Kommentierung hält sich in einem begrenzten Rahmen, sodass die Kennzeichnung von Lesarten und Varianten der Handschrift und der Sachkommentar zusammen den Quellentext nicht unverhältnismäßig vermehren. Sehr nützlich ist die Beigabe zweier Anhänge. Der erste enthält die Lebensläufe Scharnhorsts, seiner Familie und der wichtigsten Personen, mit denen er zu tun hatte. Der zweite bietet ein für den modernen Leser unentbehrliches umfangreiches Glossar militärischer und ziviler Fachbegriffe. Indizes erschließen die Personen, militärischen Formationen und Orte.

Die Edition folgt einem strikt chronologischen Prinzip. So wird die biografische Kontinuität deutlich: Gerade in der dadurch sichtbaren Gleichzeitigkeit etwa der privaten Briefe an seine Frau und seiner alltäglichen Dienstgeschäfte erhalten die unmittelbaren situativen Kontexte die gebührende Aufmerksamkeit. So lässt sich, wie Sikora konstatiert, "das Wechselspiel zwischen Wahrnehmungsmustern, komplexer Erfahrung und reflexiver Aneignung rekonstruieren" (XXVII). Die großen Abschnitte, die jeweils bestimmte Phasen von Leben und Karriere umfassen, ermöglichen aber auch eine sinnvolle Ordnung des nicht unwesentlichen Anteils von Denkschriften, Notizen und Reflexionen, die anders als etwa die Korrespondenzen meistens nicht datiert sind und somit nicht einfach in die Tagesfolge eingeschoben werden können. So finden sich etwa die umfangreichen Überlegungen Scharnhorsts über das Militärschulwesen (105-181) als eigener Block im entsprechenden Abschnitt.

Eine Rezension ist nicht der Ort, ausführlich die Inhalte einer Edition darzustellen. Vertieft man sich in die Lektüre des nur auf den ersten Blick spröden Materials, öffnen sich schnell die unterschiedlichsten Perspektiven und Fragestellungen, weit über die unmittelbare Biografie Scharnhorsts oder die Untersuchung seiner Rolle bei bestimmten historischen Vorgängen hinaus. Die Edition zeigt Scharnhorst als exemplarischen Vertreter der auf Bildung und Verwissenschaftlichung des Kriegswesens orientierten militärischen Variante der Aufklärung und lässt zudem die auf die Erfahrung der epochalen Veränderungen reagierende Entwicklung seines Denkens erkennen. Es dürften aber ganz besonders die tiefen Einblicke in den Friedens- und Kriegsalltag eines Offiziers des ausgehenden 18. Jahrhunderts sein, die künftige Forschungen befruchten werden. In Scharnhorsts privaten wie dienstlichen Aufzeichnungen dokumentiert sich die kritische, zugleich innerlich engagierte wie intellektuell distanzierte Sichtweise eines aufstrebenden, aber durch seine "niedere Geburt" benachteiligten Offiziers auf die inneren Mechanismen der militärischen Gesellschaft und auf den Umbruch des Kriegsbildes in den Revolutionskriegen.

Es steht zu hoffen, dass die mit dem vorliegenden ersten Band so erfolgreich begonnene Edition weiter finanziert und so endlich kontinuierlich und zügig fortgesetzt werden kann.

Daniel Hohrath