Robert Dallek: John F. Kennedy. Ein unvollendetes Leben. Aus dem Amerikanischen von Klaus Binder, Bernd Leineweber, Peter Torberg, München: DVA 2003, 759 S., 50 Abb., ISBN 978-3-421-05200-1, EUR 39,90
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"Ich glaube", schreibt der Autor Robert Dallek im Vorwort seines viel gerühmten Kennedy-Buches, "diese Biographie bietet die gründlichste Auseinandersetzung mit Kennedy, seiner Persönlichkeit und seiner politischen Karriere, die es derzeit gibt" - und der Professor aus Boston hat Recht. Keiner seiner Vorgänger hat so gründlich recherchiert, keiner so viel Neues zu Tage gefördert, und keiner hat seine Erkenntnisse so umsichtig und überzeugend zu präsentieren vermocht.
Das Buch hat vier Teile. Im ersten, der Jugend gewidmeten Teil wird der Leser mit den familiären Verhältnissen des irisch-katholischen Kennedy-Clans, mit den Studienjahren des späteren Präsidenten in der London School of Economics, in Princeton und Harvard und mit seinem beinahe tödlichen Engagement als Kommandant eines Torpedobootes im Zweiten Weltkrieg vertraut gemacht. Dallek geht hierbei auch auf zwei Bereiche ein, die Kennedys Leben bis zum Schluss geprägt haben und deshalb auch in späteren Kapiteln immer wieder (manchmal sogar fast bis zur Grenze der Ermüdung) thematisiert werden: seine ewigen Krankheiten, deren fatale Auswirkungen nur mit schwersten Medikamenten und äußerster Disziplin in Schach zu halten waren, und seine unstillbare Gier nach Sex, in der Dallek auch einen Reflex auf seine körperlichen Gebrechen erkennt.
Im zweiten, etwas schwächeren Teil stehen Kennedys Weg in die Politik und seine nicht gerade blendende Karriere als Abgeordneter im Repräsentantenhaus und als Senator im Zentrum des Interesses, während der dritte Teil der Frage "Kann ein Katholik Präsident werden?" gewidmet ist und also die Schwierigkeiten und Hindernisse zum Thema hat, die der als zu jung und unerfahren abgestempelte Angehörige einer religiösen Minderheit überwinden musste, ehe er am 20. Januar 1961 als 35. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt werden konnte. Dallek betont hier die Wirkungsmacht von Charisma und Charme des Kandidaten aus Boston, verschweigt aber auch die Tatsache nicht, dass der schwerreiche Vater Joseph Kennedy (früher Botschafter in London) tief in die Taschen griff, um aufwändigste Kampagnen zu finanzieren und Kritiker und Kontrahenten mundtot zu machen.
Der vierte Teil umfasst zwei Drittel des Buches; in ihm agieren der Präsident und seine Berater, die sich nach dem Willen Kennedys aus den Reihen der besten Köpfe rekrutieren sollten, die Amerika zu bieten hatte. Hier werden die immensen Herausforderungen geschildert, die der neue Präsident binnen kurzem und fast gleichzeitig zu bewältigen hatte. Klar wird dabei, dass Kennedys Hauptinteresse eher der Außenpolitik galt - einer Materie also, mit der er sich auf zahlreichen Auslandsreisen und in seiner Dissertation über die britische Appeasementpolitik seit den Dreißigerjahren vertraut gemacht hatte. Auf diesem Felde trat sein, auch gegen heftigste Widerstände bewährtes Geschick, das Richtige zu tun und das Falsche zu unterlassen, am deutlichsten hervor; lediglich mit seiner Entscheidung für eine Invasion in der kubanischen Schweinebucht im April 1961 blieb er weit hinter seinem Talent zurück. Ansonsten aber präsentiert Dallek einen amerikanischen Präsidenten, dessen Weitsicht und Realitätssinn zumal dann zu rühmen sind, wenn man sich die verantwortungslosen Ratschläge vor Augen führt, die ihm insbesondere die führenden Militärs im Pentagon erteilten; Kennedy entschärfte so die Verwicklungen in Laos ebenso wie die Krisen um Berlin - und natürlich vor allem die Konfrontation mit Chruschtschow in der Kubakrise von 1962, die als der "wohl gefährlichste Augenblick im Verlauf des fünfundvierzig Jahre andauernden Kalten Krieges" anzusehen und in den Augen Dalleks ein "unauslöschliches Beispiel dafür" ist, "wie ein Mann eine Katastrophe verhindern konnte". Vieles spricht im Übrigen auch dafür, dass die USA in ihr Desaster in Vietnam nicht hineingestolpert wären, wenn Kennedy mehr Zeit gehabt hätte, seiner Politik zum Durchbruch zu verhelfen.
In der Innenpolitik sind Kennedys Spuren undeutlicher; hier war sein Spielraum aber auch geringer, weil er in Senat und Repräsentantenhaus nicht den nötigen Rückhalt fand. Besonders zögernd agierte er in der Frage der Rassentrennung, die 1963 nach den blutigen Unruhen in Birmingham / Alabama neue Aktualität gewonnen hatte. Selbst Dallek, der nur ungern ein schlechtes Haar an Kennedy findet, räumt ein, dass in puncto Bürgerrechte für Farbige mehr zu erreichen gewesen wäre, wenn der Präsident seine ganze Autorität in die Waagschale geworfen hätte; Lyndon B. Johnson, der nach den Todesschüssen von Dalles am 22. November 1963 seine Nachfolge antrat, ging hier energischer und aggressiver zu Werke und hatte Erfolg damit. Dieser Erfolg, so Dallek einschränkend, müsse aber auch Kennedy gutgeschrieben werden, weil er die Grundlagen dafür und für die Übrigen "Great Society"-Gesetze legte, die in der Ära Johnson verabschiedet worden sind.
Damit ist schon angedeutet, dass selbst diese so beeindruckende wie packende Biografie ihre Grenzen hat: Dallek unterliegt der Faszination des 35. Präsidenten und verliert mitunter die kritische Distanz - etwa wenn er schreibt, dass "die tausend Tage Kennedys im Amt an das Gute der Nation appellierten, Visionen von einer weniger gespaltenen Nation und Welt wachriefen und eindrücklich bewiesen, daß die Vereinigten Staaten noch immer die letzte, die beste Hoffnung für die Menschheit darstellen". Hinzu kommt, dass der Autor sich fast ausschließlich auf die Instrumente der Politik- und Diplomatiegeschichte verlässt, die ihre Schuldigkeit tun, wenn das Hin und Her des Regierungshandelns zur Darstellung gebracht werden soll, die aber versagen, wenn schwerer Greifbares zu erklären ist: die Wirkung der charismatischen Ausstrahlungskraft Kennedys, die Hoffnung auf Aufbruch, Erneuerung und eine bessere Welt, die er nicht nur in Amerika zu wecken vermochte, sondern auch in Ländern, wo man nur Bilder von ihm kannte, und der Mythos, der noch zu seinen Lebzeiten um ihn entstand. Dallek, der auf den Einsatz struktur-, mentalitäts- und kulturgeschichtlicher Hilfsmittel fast ganz verzichtet und deshalb auch die Beziehungen zwischen Kennedy und seiner Welt im rasanten Umbruch verfehlt, hat deshalb schon Recht, wenn er im Vorwort meint: Das "letzte Wort über John F. Kennedy" sei noch nicht gesprochen.
Hans Woller