Rezension über:

Sylvie Lecoq-Ramond: Histoire du musée d'Unterlinden et de ses collections de la Révolution à la première guerre mondiale, Colmar: Société Schongauer - Musée d'Unterlinden 2003, 420 S., zahlr. Abb., ISBN 978-2-902068-26-5, EUR 40,00
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Rezension von:
Tanja Baensch
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Tanja Baensch: Rezension von: Sylvie Lecoq-Ramond: Histoire du musée d'Unterlinden et de ses collections de la Révolution à la première guerre mondiale, Colmar: Société Schongauer - Musée d'Unterlinden 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 2 [15.02.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/02/3301.html


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Sylvie Lecoq-Ramond: Histoire du musée d'Unterlinden et de ses collections de la Révolution à la première guerre mondiale

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In Frankreich hat die Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Museen - wie in anderen Ländern auch - seit den 1980er-Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung genommen. Eher ungewöhnlich aber waren bis vor kurzem monografische Untersuchungen zu den französischen Provinzmuseen. Der Bicentenaire französischer Museumsgründungen leitete hier in letzter Zeit eine Trendwende ein. Einzelne Museen wie die in Le Mans und Dijon haben im Anschluss an frühere Forschungen Publikationen ihrer Geschichte herausgegeben und damit ein entsprechendes Interesse bei anderen Museen geweckt.

Kürzlich hat das Musée d'Unterlinden in Colmar ebenfalls ein Jubiläum zum Anlass genommen, um die Geschichte des eigenen Hauses von der Revolution bis zum Ersten Weltkrieg in einer Ausstellung und einem fundierten Aufsatzband zu thematisieren: Vor 150 Jahren, am 3. April 1853, wurde es im ehemaligen Dominikanerinnenkloster eröffnet. Ihre Besonderheit erhält die Colmarer Museumsgeschichte dadurch, dass sie von den Entwicklungen in zwei Staaten geprägt war. Dementsprechend bot es sich an, für die Publikation eine interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe französischer und deutscher Wissenschaftler heranzuziehen. Die Autoren konnten ältere Forschungen zu Detailthemen weiterführen, gehen aber auch offenen Fragen durch zum Teil erste Auswertung von Archivmaterial auf den Grund.

Anhand der thematischen Beiträge lässt sich der chronologische Ablauf der Colmarer Museumsgeschichte gut nachvollziehen. Die kunst- und kulturhistorische Sammlung entwickelte sich aus einem im Zuge der Revolution gebildeten Depot für Bücher und Objekte der Kunst und Wissenschaft. 1849 überließ die Kommune Colmar der zwei Jahre vorher gegründeten Société Schongauer gegen Übernahme der entstehenden Baukosten das in der Französischen Revolution säkularisierte und zwischenzeitlich als Militärkaserne genutzte Dominikanerinnenkloster zur Einrichtung eines Museums. Kurze Zeit später nahm das Kloster auch andere städtische Kultureinrichtungen, die Bibliothek und die naturhistorischen, archäologischen und ethnografischen Sammlungen, auf. Ab den 1860er-Jahren wurde der sakrale Charakter der Klosterkapelle durch die Aufstellung des skulptierten Schreins des Isenheimer Altars wieder zur Geltung gebracht und eine Trennung der verschiedenen Kunst- und Wissenschaftsgebiete vollzogen (Barbara Gatineau, Sylvie Ramond/François-René Martin, Suzanne Plouin). Bis zum Ersten Weltkrieg erfuhr das Museum entscheidende Änderungen in seinen Rauminszenierungen (Barbara Gatineau, Hendrik Ziegler).

Innerhalb verschiedener Aufsätze bietet der Band neue Erkenntnisse für die Einflussgeschichte zwischen Frankreich und Deutschland von der Goethezeit bis zum Ersten Weltkrieg: In der vorrevolutionären Zeit waren die Städte im Grenzraum zwischen Frankreich, Deutschland und der Schweiz sprachlich und kulturell multinational geprägt. In einer für den Austausch wichtigen Lesegesellschaft in Colmar hielt der mit Goethe befreundete und in Deutschland studierte Theologe und Historiker François-Christian Lersé mehrere Vorträge über die elsässische Geschichte und - als einer der wenigen - über kunstgeschichtliche Fragen (Sylvie Ramond, Jean-Luc Eichenlaub, François-René Martin). Er gehörte zu den ersten, die die Bedeutung des Isenheimer Altars, der bis dahin als Werk Dürers galt, wahrnahmen. Nach den Forschungen von François-René Martin und Sylvie Ramond ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er selbst - und nicht, wie bisher angenommen, die Kunstkommissare Marquaire und Karpff - den Isenheimer Altar 1793 in der Bibliothek von Colmar in Sicherheit gebracht hat.

In einem Beitrag von François-René Martin über den Martin-Schongauer-Kult kommt zum Ausdruck, dass die historische Wertschätzung der Colmarer Kunstwerke des 15. und 16. Jahrhunderts - über das allgemein zunehmende Lokalbewusstsein hinaus - entscheidend von der Begegnung elsässischer mit deutschen Kunstforschern, wie von Quandt, Passavant und Waagen, beeinflusst war. Bis 1860 beherrschte Schongauer das Forschungsinteresse und wurde ähnlich Dürer in Nürnberg zu einer lokalen Künstlergröße stilisiert (François-René Martin, Laure Boyer/Christian Kempf). Erst danach widmete man dem ohne Künstlernamen überkommenen Isenheimer Altar mehr Aufmerksamkeit. Nachdem Waagen und Woltmann die Debatte über die Autorschaft des Altars belebt hatten, vollzog sich ein Wandel in der Bewertung der Colmarer Kunst. Schongauer trat zurück zu Gunsten von Grünewalds Isenheimer Altar. Die 1901 nach Bodeschen Inszenierungsprinzipien vorgenommene Neuaufstellung rückte den Altar im Chor der Kapelle ins Zentrum der Aufmerksamkeit (Hendrik Ziegler).

Zwischen 1870 und 1918 zeigt sich drastisch, dass die Veränderungen im deutsch-französischen Verhältnis Auswirkungen bis in die Kunstrezeption und die Museumspolitik hatten. Die Société Schongauer wehrte sich mit ihren historischen Forschungen und ihrer regionalen Sammlungsausrichtung gegen eine kulturelle Vereinnahmung durch das deutsche Reich (Sylvie Ramond/François-René Martin, Hendrik Ziegler, Isabelle de Lannoy), das mit seiner Schenkungspolitik unmittelbar politischen Einfluss auf das Museum nahm (Hendrik Ziegler): Der Kaiser und das Ministerium für Elsass-Lothringen überwiesen dem Museum Kunstwerke, die die historisch begründete Legitimität der Zugehörigkeit Elsass-Lothringens zum deutschen Kaiserreich dokumentieren sollten. Nach einer Phase der situationsbedingten Zurückhaltung öffnete sich die Société in den 80er-Jahren unter ihrem neuen Präsidenten Fleischhauer der Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden, ohne jedoch ihr politisch motiviertes Interesse an einer eigenen regionalen Identität aus dem Blickfeld zu verlieren (Hendrik Ziegler, Gabriel Braeuner).

Die komplizierte und hochspannende Geschichte der Auslagerung der Colmarer Kunstwerke - darunter der Isenheimer Altar - im 1. Weltkrieg verdeutlicht, dass Colmar zeitweise Sorge haben musste, zwischen die Mühlen deutscher und französischer Interessen zu geraten (Hendrik Ziegler).

Durch den Abdruck zentraler Quellentexte, darunter Protokolle der Lesegesellschaft mit den Beiträgen Lersés und eine neu bearbeitete Quellenedition der Denkschrift zur Gründung eines Kupferstichkabinetts von Louis Hugot an den Bürgermeister von Colmar von 1846, gibt der Katalog Material zu weiterer Forschung an die Hand. Die dokumentarisch eingesetzten Abbildungen unterstützen das Verständnis der Argumentationen. Biografische Verzeichnisse mit umfangreichen Literaturangaben, eine Liste der Archäologen des 19. Jahrhunderts in der Region von Colmar und ein aufschlussreicher Beitrag zu den für Colmar wichtigen Sammlern (Frédérique Goerig) laden darüber hinaus zur Nutzung des Katalogs als Handbuch ein. Das Colmarer Museum präsentiert über die sehr anregende Publikation seine durch die politischen Brüche besonders facettenreiche Geschichte. Heute begegnet es dem Besucher als ein für die abendländische Kunstgeschichte bedeutsames Kunstmuseum und zugleich als ein kulturhistorisches Regionalmuseum. Diese spannungsvolle Mischung hat seine Geschichte geprägt. Sie ist seinem Selbstverständnis entsprungen und zum Colmarer Charakteristikum geworden.

Tanja Baensch