Annette Weinke: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949-1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2002, 514 S., ISBN 978-3-506-79724-7, EUR 49,80
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Bis 1989 sind die schriftlichen Hinterlassenschaften der Staatsanwaltschaften und Gerichte vor allem als Quelle für die Erforschung des Nationalsozialismus herangezogen worden. Lange Jahre konnte deshalb ein schmales Bändchen Adalbert Rückerls, des ehemaligen Leiters der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, als Standardwerk zur Strafverfolgung von NS-Verbrechen gelten. [1] Seitdem ist die Forschung in Bewegung geraten. Ulrich Herbert und Norbert Frei setzten hier Mitte der Neunzigerjahre neue Standards und etablierten die NS-Verfahren, die bislang vorrangig von der politischen Publizistik bearbeitet worden war, im Kanon zeithistorischer Forschungsthemen. [2]
In dieser Tradition steht die Potsdamer Dissertation von Annette Weinke über "Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland". Auch Weinke interessiert sich für die Frage der Vergangenheitsbewältigung durch Recht in der Bundesrepublik. Die Verfolgung oder Nichtverfolgung der NS-Täter in der Bundesrepublik, so jedoch ihre These, erschließe sich nur in einer gesamtdeutschen Perspektive. Im Zentrum ihrer Arbeit steht somit "die Frage nach den Zusammenhängen zwischen vergangenheitspolitischer Systemkonfrontation und dem strafrechtlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit" (11).
Ihre chronologisch aufgebaute Studie ist in 14 Hauptkapitel gegliedert. Nach einem kurzen, den aktuellen Forschungsstand referierenden Überblick zur Strafverfolgung in den Besatzungszonen folgt ein knappes Resümee dessen, was Frei im eigentlichen Sinn als "Vergangenheitspolitik" definiert hat: die "Bewältigung" der alliierten Strafverfolgung in der frühen Bundesrepublik. Im Folgenden wird der Leser über die parallel dazu stattfindenden Schein- und Schauprozesse der frühen Ulbricht-Ära informiert.
Im Hauptteil der Arbeit analysiert Weinke die Auswirkungen der "Blutrichter"- und anderer Kampagnen der SED auf den Umgang der westdeutschen Justiz mit NS-Belasteten, erschließt neue Quellen zur Gründungsgeschichte der Ludwigsburger Zentralen Stelle und präsentiert sorgfältig ausgewählte Fallbeispiele: den so genannten Frankfurter Diplomaten-Prozess gegen Adolph-Heinz Beckerle und Fritz-Gebhardt von Hahn wegen der Deportationen auf dem Balkan, in dem unter anderem Kurt Georg Kiesinger in den Zeugenstand trat, und das (gescheiterte) Berliner Ermittlungsverfahren gegen Angehörigen des Reichssicherheitshauptamts (RSHA). Im letzen Kapitel widmet sie sich darüber hinaus der ebenso interessanten wie komplizierten Frage nach den Rückwirkungen westdeutscher Vergangenheitspolitik auf die NS-Ermittlungen in der DDR.
Das "Ruhebedürfnis" (Fritz Bauer) der Deutschen, so das Ergebnis ihrer auf breites Quellenstudium gestützten Studie, müsse als "systemübergreifendes Kontinuum deutsch-deutscher Vergangenheitspolitik" in der unmittelbaren Nachkriegszeit bewertet werden (332). Die weitreichenden Amnestie- und Integrationsmaßnahmen in den frühen Fünfzigerjahren und das Engagement für die Kriegsverbrecher analysiert Weinke gleichfalls als gesamtdeutsches Phänomen. In beiden deutschen Staaten sei die Strafverfolgung zu diesem Zeitpunkt faktisch zum Stillstand gekommen. In den Sechzigerjahren hätten die DDR-Kampagnen entscheidende Impulse für die Intensivierung der Strafverfolgung gegeben - auch wenn es hier nicht allein um Aufklärung, sondern immer auch um die Diffamierung der Bundesrepublik Deutschland gegangen sei. Dem SED-Juristen Karl Kaul kommt in der Darstellung von Weinke deshalb eine Schlüsselrolle zu: "Kaul, nicht Norden war somit der eigentliche Spiritus Rector hinter der Idee, die bundesdeutschen NS-Prozesse für neue Formen der ideologischen Auseinandersetzung zu nutzen" (345).
Annette Weinke plädiert in ihrem Schlusswort dafür, die Wiederaufnahme der NS-Ermittlungen nicht als scharfe Zäsur, sondern vor allem als Übergangsphase zu bewerten: "Der kriminalpolitische Prioritätenwechsel vom Herbst 1958 legte somit lediglich die Grundlagen für einen allmählichen mentalen Wandel der bundesdeutschen Gesellschaft, indizierte jenen aber keinesfalls selbst, wie dies die bislang in der Literatur vertretene These von der angeblichen Schockwirkung des Ulmer Einsatzgruppenprozesses nahe legt" (339). Die "Heterogenität der Masse von Einzelfällen" lasse jedoch "generalisierende Einschätzungen zu den Auswirkungen des deutschen Systemkonflikts auf den Umgang mit NS-Tätern" kaum zu (355). Wer sich an dieser Stelle nach eindeutigeren Antworten und klareren Aussagen gesehnt haben mag, sei daran erinnert, dass Annette Weinke hier erstmals versucht, den strafrechtlichen Umgang mit NS-Verbrechen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in gesamtdeutscher Perspektive zu untersuchen. Dass diese Fragestellung nicht nur originell, sondern tragfähig ist und eine Fülle von neuen Einsichten ermöglicht, hat sie mit ihrer Studie eindringlich erwiesen.
Anmerkungen:
[1] Adalbert Rückerl: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945-1978, Heidelberg / Karlsruhe 1979.
[2] Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996; Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996.
Claudia Moisel