Ulrich Baumgärtner: Reden nach Hitler. Theodor Heuss Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (= Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus. Wissenschaftliche Reihe; 4), München: DVA 2001, 479 S., ISBN 978-3-421-05553-8, EUR 19,90
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Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik Deutschland hat in den letzten Jahren auch in der Geschichtsschreibung zunehmend Aufmerksamkeit gefunden. Anstelle der unklaren Begriffe "Vergangenheitsbewältigung" oder "Aufarbeitung" der Vergangenheit haben sich vor allem die Konzepte der "Vergangenheitspolitik" [1] und "Geschichtspolitik" [2] als analytisch fruchtbar und weiterführend erwiesen. Jedoch sind damit besonders Formen des interessengeleiteten Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit behandelt worden. Zudem haben die beiden Begriffe den Blick vor allem auf die Grenzen der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur gelenkt, sodass - in berechtigt kritischer Perspektive - gezeigt worden ist, inwieweit und wie Engagement für die Nationalsozialisten sowie regimekonformes Verhalten im "Dritten Reich" in der westdeutschen Gesellschaft lange eskamotiert wurden.
Mit Theodor Heuss (1884-1963) behandelt Ulrich Baumgärtners Buch, das aus einer an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommenen Dissertation hervorgegangen ist, einen prominenten Liberalen, der trotz seiner Zustimmung zum "Ermächtigungsgesetz" am 23. März 1933 der Sympathie mit dem Nationalsozialismus unverdächtig ist. Heuss wurde schon früh durch die liberal-demokratische Tradition des Bürgertums in Württemberg und Baden geprägt. Als Journalist und Dozent der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin, aber auch als Abgeordneter der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei, die im Sommer 1930 in der "Deutschen Staatspartei" aufging, trat Heuss energisch für eine Parlamentarisierung und Demokratisierung Deutschlands ein. Nach dem Verlust seines Reichstagsmandates 1933 konzentrierte sich Heuss erneut auf seine Arbeit als Journalist. Obgleich er das NS-Regime ablehnte, beteiligte sich Heuss nicht aktiv am Widerstand gegen Hitler. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte er zunächst dem Landtag von Württemberg-Baden an, bevor er ab 12. Dezember 1948 als 1. Vorsitzender die neu gebildete Freie Demokratische Partei (FDP) führte. Mit der Wahl zum Bundespräsidenten am 12. September 1949 hatte Heuss den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erreicht. In diesem Amt, das er bis 1959 innehatte, trug er in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft vor allem durch seine viel beachteten Reden maßgeblich zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bei.
Baumgärtner, der einleitend den Forschungsstand bilanziert und dabei zentrale Begriffe wie "kommunikatives Gedächtnis" beziehungsweise "kulturelles Gedächtnis" [3] diskutiert, untersucht die "Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Deutschland nach 1945" (17 f.), indem er gezielt ausgewählte Reden von Heuss akribisch analysiert. Die Spannbreite reicht dabei von der Ansprache anlässlich des "Tages der Opfer des Faschismus" im Stuttgarter Staatstheater (25. November 1945) bis zu der Rede zum 10. Jahrestag des 20. Juli 1944 im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin am 19. Juli 1954. Die einführende Rekonstruktion der Aufsehen erregenden Ansprache, in der Heuss am 11. Mai 1932 im Reichstag eindringlich vor den Nationalsozialisten warnte, soll vor allem den längerfristigen Vergleich ermöglichen. Über den Nachweis der Kontinuität von Deutungsmustern wie dem "biologischen Materialismus" hinaus wird der Stellenwert dieses Kapitels für die Argumentation Baumgärtners jedoch nicht deutlich genug. Die Befunde werden in der Zusammenfassung deshalb auch allenfalls beiläufig erwähnt (335, 344). Wie der Verfasser selber konzediert (345), stellte das Gedenken an die NS-Zeit nach dem Ende des "Dritten Reiches" Heuss als Redner vor grundsätzlich andere Herausforderungen als die zeitgenössische Auseinandersetzung mit der aufsteigenden nationalsozialistischen Massenbewegung 1932.
Demgegenüber erbringt die eingehende Untersuchung der Reden, in denen Heuss von 1945 bis 1954 unterschiedliche Aspekte der NS-Vergangenheit behandelte, erhellende und weiterführende Befunde. Präzise analysiert Baumgärtner die konkreten politischen und gesellschaftlichen Konstellationen und Themen der Ansprachen und deren mediale Weiterverarbeitung ebenso wie Reaktionen der Zuhörer und der Bevölkerung. Auch die Beziehung zwischen dem Redner und dem Inhalt wird jeweils behandelt. Heuss, der in seiner Rede vom 11. Mai 1932 auf eine sachliche Auseinandersetzung mit der von ihm scharf abgelehnten NSDAP gedrängt, aber die Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung unterschätzt hatte, forderte zwar schon in den Ansprachen, die er 1945/46 hielt, eine unnachgiebige Erinnerung an die Terrorherrschaft. Zudem verteidigte er den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, und er trat für eine Wiedergutmachung gegenüber den Opfern der NS-Diktatur ein. Jedoch vermied Heuss eine offene Diskussion über die individuelle Verantwortung und Schuld der Deutschen, indem er vor allem die Verbrechen der führenden Nationalsozialisten hervorhob. Demgegenüber wies er der Bevölkerung überwiegend nur eine Opferrolle zu. Deshalb schien allenfalls eine "private Selbstbesinnung" (100) und "Selbstreinigung" (103) oder die Rückkehr zu einer auf dem "Ideal der Humanität gründenden zwischenmenschlichen Verständigungsbereitschaft" (109) notwendig. Mit dem Traditionsrekurs auf die christlich-abendländische Kultur, das Naturrecht, die deutsche Nation und das demokratische Erbe der Revolution von 1848/49 versuchte Heuss, "die naheliegende Schuldabwehr zu durchbrechen und gleichzeitig das Schuldeingeständnis moralisch ertragbar zu machen" (88). Wie Baumgärtner zu Recht hervorhebt, stand dieser Traditionskonstruktion freilich das weitgehende Scheitern der Revolutionen von 1848/49 und 1918/19 ebenso entgegen wie der radikale Bruch des humanitär-demokratischen Erbes durch die "Machtergreifung" der Nationalsozialisten.
Auch in seiner Antrittsrede als Bundespräsident wandte sich Heuss energisch gegen Vergangenheitsvergessenheit. Die junge deutsche Republik bedurfte aus seiner Sicht vielmehr der kritischen Erinnerung an den Nationalsozialismus, um damit demokratische Werte gesellschaftlich zu verankern. Heuss nutzte deshalb öffentliche Ansprachen wie die Reden vor der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit (7. Dezember 1949), zur "Woche der Brüderlichkeit" am 7. März 1952 und zur Einweihung der Gedenkstätte auf dem Gelände des früheren Konzentrationslagers Bergen-Belsen (30. November 1952), um auf das Eingeständnis der "Kollektivscham" zu drängen, das er der - von ihm abgelehnten - "Kollektivschuld" entgegensetzte. Obgleich er damit eine Mitverantwortung der Deutschen grundsätzlich anerkannte, verzichtete Heuss letztlich auf eine "konkrete personalisierbare Schulddiskussion" (200). Auch mit seiner Forderung, das 1933 außer Kraft gesetzte "Gleichgewicht der geschichtlichen Kräfte" (264) wiederherzustellen und zur demokratischen Tradition zurückzukehren, exotisierte der Bundespräsident die nationalsozialistische Diktatur, die ihrer konkreten historischen Bezüge entkleidet wurde.
Die Rede zur Einweihung des Soldatenfriedhofs in Hürtgenwald 17. August 1952 und zum Volkstrauertag im Bundestag am 16. November 1952 boten Heuss zudem Gelegenheiten, um sich kritisch mit der militärischen Tradition auseinander zu setzen. Ohne die deutschen Soldaten pauschal und individuell des Versagens zu beschuldigen, betonte Heuss seine Ablehnung des soldatischen Heldenmythos. Überdies kritisierte er scharf die Kriegführung der Wehrmacht 1944/45. Jedoch betrieb er zugleich eine Ehrenrettung der einzelnen Soldaten, indem er ihr Verhalten entpolitisierte, diesem eine religiöse Sinngebung unterlegte und damit den Übergang vom überkommenen Heldengedenken zur Volkstrauer erleichterte.
Insgesamt zeigt Ulrich Baumgärtners Buch, wie Heuss die Erinnerung an die NS-Vergangenheit anmahnte, um die Demokratie in Westdeutschland nicht nur als institutionelle Ordnung, sondern auch als "Lebensform" (335) zu verwurzeln. Anhand der Presseberichterstattung und der Vielzahl von Schreiben an den Bundespräsidenten wird überdies belegt, dass in der Bundesrepublik schon in den frühen Fünfzigerjahren intensiv über den Umgang mit dem Nationalsozialismus diskutiert wurde. Deutlich wird aber auch der ausgeprägte Konsensdruck in einer Gesellschaft, in der die Debatte über individuelle Verantwortung und Schuld weitestgehend tabuisiert war. Der Rekurs auf überpersönliche Kräfte und Strategien der Enthistorisierung beeinflusste deshalb auch die Reden, die Heuss hielt. Mit seinem Begriff "Kollektivscham" schwankte der Bundespräsident letztlich zwischen "Schuldbekenntnis und Schuldabwehr" (342).
In seiner instruktiven Studie porträtiert Ulrich Baumgärtner mit Theodor Heuss einen führenden Repräsentanten der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die sich im Übergang vom Trauma und Schock des totalen Zusammenbruchs zur pluralistischen Demokratie befand. Jedoch spiegelte Heuss in seinen Ansprachen aber nicht nur den gesellschaftlichen Konsens in der frühen Bundesrepublik wider, sondern er führte zumindest partiell über ihn hinaus. Die Studie ist deshalb auch ein wichtiger Beitrag zu dem vielschichtigen Prozess der allmählichen Demokratisierung, welche die Bevölkerung bereits in den Fünfzigerjahren zumindest partiell in den neuen Staat integrierte. Freilich wurde diese - angesichts der Voraussetzungen keineswegs geringe - Errungenschaft mit der Tabuisierung konkreter Verantwortung und persönlicher Schuld erkauft. Mit seinem Reden ebnete "Papa Heuss" der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus den Weg, freilich auf Kosten einer offenen Diskussion über konkrete und individuelle Verantwortung und Schuld.
Anmerkungen:
[1] Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.
[2] Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999.
[3] Dazu knapp: Aleida Assmann: Artikel "Gedächtnis, Erinnerung", in: Klaus Bergmann u.a. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, 5. Auflage, Seelze 1997, 33-38.
Arnd Bauerkämper