Rezension über:

Winfried Nerdinger / Werner Oechslin (Hgg.): Gottfried Semper (1803-1879). Architektur und Wissenschaft. Ausstellungs-Katalog Architekturmuseum der TU München, Pinakothek der Moderne München / Museum für Gestaltung Zürich 2003/2004, München: Prestel 2003, 520 S., 300 Farb-, 300 s/w-Abb., ISBN 978-3-85676-120-2, EUR 75,00
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Rezension von:
Stefanie Lieb
Kunsthistorisches Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Stefanie Lieb: Rezension von: Winfried Nerdinger / Werner Oechslin (Hgg.): Gottfried Semper (1803-1879). Architektur und Wissenschaft. Ausstellungs-Katalog Architekturmuseum der TU München, Pinakothek der Moderne München / Museum für Gestaltung Zürich 2003/2004, München: Prestel 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 3 [15.03.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/03/3342.html


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Winfried Nerdinger / Werner Oechslin (Hgg.): Gottfried Semper (1803-1879)

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Gottfried Semper gehört neben Karl Friedrich Schinkel zu den bekanntesten deutschen Architekten des 19. Jahrhunderts. Gerade diese Bekanntheit ist es aber, die häufig den erneuten Blick auf einen Künstler verstellt. So wurde ein mehrjähriges DFG-Forschungsprojekt des Architekturmuseums der TU München und des Instituts gta der ETH Zürich anberaumt, um durch eine erneute Sichtung der Archivalien, Schriften und Bauten ein differenziertes und modifiziertes Bild Sempers zeichnen zu können. Den willkommenen Anlass für eine Ausstellung zum Leben und Werk des Architekten bot der 200. Geburtstag Sempers im Jahre 2003. Unter Federführung der Projektleiter Winfried Nerdinger und Werner Oechslin entstanden so eine umfangreiche Ausstellung zu Gottfried Semper sowie ein opulenter Ausstellungskatalog.

Ein zentrales Anliegen des Forschungsprojektes war die Erstellung eines möglichst vollständigen neuen Werkkataloges, der das provisorische Werkverzeichnis Claus Zoege von Manteuffels aus dem Jahre 1952 ersetzen sollte - und dies sicherlich auch wird. Das neue Verzeichnis, das sehr gründlich und detailliert vorrangig von Heidrun Laudel ausgearbeitet worden ist, stellt das Grundgerüst des Ausstellungskataloges dar. Es ist nicht etwa als Block an das Ende des Buches gesetzt, sondern geschickt in die Gesamtstruktur der Text- und Bildbeiträge integriert. Die Gliederung der Aufsätze erfolgt chronologisch in fünf biografischen Teilen, an die jeweils die entsprechenden Nummern des Werkverzeichnisses mit aufwändigen Farbabbildungen angehängt sind. Zeitlich-geografische Zäsuren bieten sich auf Grund des bewegten und abwechslungsreichen Lebens und Schaffens von Gottfried Semper an: 1823-34 Studien- und Reisezeit, 1834-49 Dresden, 1849-55 Exilzeit, 1855-71 Zürich und 1871-79 Wien. Trotz dieses streng chronologischen Konzeptes gelingt es den Herausgebern und Autoren, Sempers ganzheitliches Engagement in Kultur und Politik, das sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Lebenswerk zieht, gebührend herauszuarbeiten. Bereits im Vorwort wird konstatiert, dass Semper vielleicht der letzte Architekt war, der "seine Praxis mit einer universalen Kulturtheorie verband" (7). Als leise Kritik sei lediglich angemerkt, dass womöglich durch die Rastervorgabe der Chronologie die theoretischen Schriften Sempers doch etwas zu kurz gekommen sind. Sie werden zwar in einigen Aufsätzen behandelt (Oechslin, Pisani, Gnehm), jedoch wäre eine Auswahl von Originaltexten im Anhang - zusätzlich zur Bibliografie der Semper'schen Schriften - wünschenswert gewesen. Ansonsten findet der Leser aber einen perfekt ausgestatteten Anhang mit ausführlicher Biografie, Auswahlbibliografie sowie Personen- und Ortsregister vor. Insgesamt ist der Katalog von der ersten bis zur letzten Seite mit hervorragenden, größtenteils neu angefertigten und vor allem auch großformatigen Farbabbildungen versehen.

Die Einleitung zu den fünf biografischen Lebens- und Werkphasen Sempers erfolgt durch die Initiatoren von Projekt und Ausstellung. Winfried Nerdinger stellt bereits in seinem Beitrag "Der Architekt Gottfried Semper - 'Der notwendige Zusammenhang der Gegenwart mit allen Jahrhunderten der Vergangenheit'" eine Gesamtschau der Persönlichkeit Sempers sowie seines architektonischen Schaffens dar. Neben bereits etablierten Klassifizierungen, wie Sempers Bedeutung für die Neurenaissance in Deutschland durch seine Dresdner Bauten (Erstes und Zweites Hoftheater, Gemäldegalerie, Villa Rosa, Palais Oppenheim), arbeitet Nerdinger neue Aspekte des Universalisten Semper heraus. So kann eine jüngst aufgefundene Briefquelle von 1844 belegen, wie sehr Semper den historischen Ort bei seinen Bauten berücksichtigte: "Ein Bauwerk, wenngleich in sich selbstständig, sollte doch sich möglichst an die Umgebung anschließen, eine solche aufsuchen oder sie schaffen und mit ihr zusammenwirken."(17)

Werner Oechslin widmet sich in "Prolegomena zu einem verbesserten Verständnis des Semper'schen Kosmos" dem kulturtheoretischen Werk des Architekten und bezieht sich hier vor allem auf die Prolegomena in Sempers Schrift "Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik" (1860-1863). Der ganzheitliche Anspruch Sempers werde bereits durch seine einleitenden kosmischen Bilder offenbar, gleichzeitig sei jedoch auch eine Unsicherheit über die Unveränderlichkeit der Schöpfung zu spüren. Das Bild der "Phönixgeburt" vermöge vielleicht am besten das Schöpferische der Kunst, "ein Zustand zwischen Zerstörung und Gestaltung", zu verdeutlichen (56). Oechslin konfrontiert Sempers "Stil" mit populären kulturphilosophischen Schriften der Zeit wie zum Beispiel Arthur Schopenhauers "Ueber den Willen in der Natur" (1836), Jacob Moleschotts Zürcher Antrittsvorlesung "Licht und Leben" (1856) oder Jacob Grimms "Geschichte der deutschen Sprache" (1848). Interessant ist in diesem Zusammenhang Sempers Analogiesetzung von Sprach- und Kunstformen, ein Aspekt, den die Semiotik rund hundert Jahre später wieder aufgreifen wird. Oechslins sehr dichte Darstellung wird durch die vielen eingestreuten Zitate sowie Kapiteltitel und -untertitel in ihrer Stringenz stellenweise etwas gestört.

Die erste biografische Phase "Studien- und Reisezeit" leitet Oechslins "Gottfried Semper und die Archäologie in ihren neuerlichen Anfängen um 1830" ein; er schildert hier Sempers Bekanntschaft mit der Archäologie sowie besonders den archäologischen Schriften der Zeit. Den neuen hermeneutischen Ansatz dieser Disziplin wird Semper in seine Kultur- und Architekturauffassung übernehmen. Sempers Teilnahme am Polychromiestreit zeichnet Oechslin anhand der Auseinandersetzung mit Franz Kugler nach, den Semper 1860 als "unsterblichen Hofrathtypus" abkanzelte (93).

Aus Salvatore Pisanis Beitrag zur Lehrzeit Sempers beim Kölner Architekten Franz Christian Gau in Paris geht hervor, dass Semper in dieser Lernphase noch streng dem akademischen Ausbildungsprogramm verpflichtet war. Die abgebildeten Studienblätter verdeutlichen sehr gut die Aneignung der Entwurfstechniken Durands, die Semper später so verachten sollte. Gisela Moeller rekonstruiert nachfolgend die Studienreise Sempers durch Italien, Sizilien und Griechenland von 1830 bis 1834. Studienschwerpunkte sind hier Bauten der griechisch-römischen Antike, der italienischen Renaissance, der normannisch-byzantinischen und der romanischen Baukunst. Direkt im Anschluss 1834 entstand Sempers erste umfangreichere theoretische Schrift "Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architectur und Plastik bei den Alten", die Pisani mit den wunderbar reproduzierten farbigen Zeichnungen Sempers zur Polychromie der griechischen Tempel vorstellt.

Die zweite Lebensphase Sempers von 1834 bis 1849 in Dresden ist durch politisches Engagement sowie große Bauaufträge bestimmt. Im Beitrag "Jahre des Vormärzes in Dresden" reflektiert Heidrun Laudel Sempers Ambitionen vor allem auch städtebaulicher Art für die Barockstadt Dresden sowie seine Aktivität als Revolutionär im Mai 1849: Er war für den Bau der Hauptbarrikade in der Wilsdruffer Gasse verantwortlich und musste nach seiner Verhaftung aus Deutschland fliehen. In ihrem zweiten Beitrag stellt Laudel ausgehend vom Ersten Hoftheater in Dresden Sempers Theaterbaukonzepte vor und kann anhand einer gut strukturierten Zusammenstellung der Entwürfe für Rio de Janeiro, dem Festspielhaus in München, dem Hofburgtheater in Wien und schließlich dem Zweiten Hoftheater in Dresden, der so genannten "Semper-Oper", die Genese dieses Bautyps im Œuvre Sempers nachzeichnen.

Sempers Exilzeit in London (1849 und 1855) war in Ermangelung großer Bauaufträge durch seine Beteiligung an der Weltausstellung 1851 in Paxtons Kristallpalast und die Beschäftigung mit der Kunstgewerbereform geprägt. Sonja Hildebrand schildert ersteres anhand der Entwürfe für die Länderabteilungen Kanada, Türkei mit Ägypten und Schweden mit Norwegen und Dänemark ausführlich. Im anschließenden Abschnitt des Werkverzeichnisses werden diese Innenausstattungen mit Illustrationen und Plänen vorbildlich dokumentiert (Nummer 64, 275-278). Weiterhin wird in Hildebrands Beitrag deutlich, dass ganz pragmatische Anlässe, wie seine Anstellung 1852 als Leiter am Department of Practical Art, Sempers Theorie des Ursprungs der Architektur aus dem Kunstgewerbe mit beeinflusst haben.

Obwohl Semper ein überzeugter Republikaner war und die Berufung 1855 ans Polytechnikum in Zürich gerne annahm, ärgerte ihn bereits früh die eidgenössische Bürokratie: die "Vielregiererei" verhindere das Entstehen großer Kunst und Architektur (299). Dennoch sollte Semper in seiner vierten Lebensphase und längsten Berufsetappe 16 Jahre im "kleinstädtischen" Zürich ausharren und architektonisch einiges bewirken. Andreas Hauser argumentiert in seinem Beitrag "Republikanische Bauformen" sehr überzeugend, dass Sempers Vorbehalte gegenüber der republikanischen Schweiz nicht ganz berechtigt waren, denn die Bauaufgabe eines Monumentalbaus wie dem Zürcher Polytechnikum hätte Semper in Paris oder London nicht realisieren können. Auch die Präsentation der gleich einem Schloss hoch über der Stadt thronenden neuen Technischen Hochschule wäre zum Beispiel in Deutschland nicht ohne weiteres möglich gewesen. Hier fielen die Berliner Bauakademie von Schinkel und Hübschs Polytechnikum in Karlsruhe eher als nüchterne "Kasernenbauten" aus. In Zürich wurde der Technik eine große Rolle innerhalb der Gesellschaft eingeräumt, und daher konnte das Polytechnikum dementsprechend in der Typologie des Stadtschlosses erscheinen.

Eine wichtige Aufgabe Sempers in Zürich bestand in seiner Lehre am Polytechnikum, die er zukunftsweisend reformierte. Bruno Maurer leitet Sempers pädagogisches Engagement bereits aus den Dresdner und Londoner Jahren her und zeigt, wie es in Zürich mit einem dreistufigen Ausbildungsmodell, - humanistische Vorschule, Unterricht in den Werkstätten, Wissensvermittlung, - umgesetzt wurde. Michael Gnehms anschließender Beitrag zum geplanten dritten Band des "Stils" wirkt thematisch etwas deplatziert, hat jedoch chronologisch Berechtigung, denn Semper konzipierte zwischen 1859 und 1877 dieses dritte Buch, das die zentrale Frage behandeln sollte, ob die neue mittelalterliche Richtung der Baukunst eine Zukunft habe. Gnehm begründet das Scheitern des Vorhabens mit dem Auseinanderfallen zwischen "geschichtlicher Bedingtheit" und der Klassifizierung "nach strukturellen Ordnungskriterien" (319). Der abschließende Aufsatz zur Zürcher Phase von Dieter Weidmann behandelt das vielzitierte Thema "Sempers Verhältnis zum Eisen". Weidmann gelingt neben einer Zusammenstellung der wichtigsten Bauten, in denen Semper Eisen als Baumaterial verwendet hat, eine Relativierung: Semper lehnte Eisen nicht generell ab, er versuchte lediglich, diesem Material seine passende Rolle zuzuweisen.

Die letzte wichtige Schaffensphase verbrachte Semper in Wien und konnte dort ab 1869 mit Großbauten und städtebaulichen Entwürfen tätig werden. Christoph Hölz möchte in seinem Beitrag dem Mythos des einsamen alten Architekten Semper entgegenwirken und stellt durchaus berechtigt Projekte wie die Neue Hofburg, das Natur- und Kunsthistorische Museum sowie das Burgtheater als mit am bedeutendsten im Semperschen Werk dar. Auch die immer wieder angeführte Legende der Zerstrittenheit mit seinem jüngeren Kollegen Hasenauer bewertet Hölz differenziert: 1875 kommt es zwar endgültig zum Bruch zwischen beiden, Semper musste aber Hasenauer die Arbeiten in Wien vorrangig wegen eines schweren Lungenleidens überlassen.

Die abschließende Zusammenfassung bietet der Aufsatz von Andreas Hauser zu Sempers städtebaulichen Konzepten und hier besonders den Kulturforen, die er für Dresden und später für Wien projektierte. Häuser erläutert anhand der eigens für die Ausstellung angefertigten Holzmodelle (443) die unterschiedlichen Schemata und warnt davor, diese einseitig als restaurative Elemente zu deuten, denn Semper habe sich immer für "Subordination sowie für Individuierung" ausgesprochen (445).

Mit diesem aufwändigen, gut verständlichen und auf höchstem wissenschaftlichem Niveau konzipierten Ausstellungskatalog wird ein Buch zur Semperforschung vorgelegt, das für die kommende Zeit sicherlich als absolutes Standard- und Nachschlagewerk zu Gottfried Semper gelten wird.

Stefanie Lieb