Heinz Boberach (Hg.): Regimekritik, Widerstand und Verfolgung in Deutschland und den besetzten Gebieten. Meldungen und Berichte aus dem Geheimen Staatspolizeiamt, dem SD-Hauptamt der SS und dem Reichssicherheitshauptamt ; 1933 - 1945. Erschließungsband zur Mikrofiche-Edition, München: K. G. Saur 2003, LXXVI + 665 S., (kostenlos für Bezieher der Microfiche-Edition), ISBN 978-3-598-34418-3, EUR 178,00
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Forschungen zur Geschichte des Widerstandes im Dritten Reich standen in der Vergangenheit häufig vor dem Problem, dass die Überlieferung in den staatlichen Berichtsserien nicht nur höchst unterschiedlich war, sondern auch weit gestreut. Zumindest dem letzten Problem ist mit der Mikroficheedition der Meldungen und Berichte aus dem Geheimen Staatspolizeiamt, dem SD-Hauptamt der SS und dem Reichssicherheitshauptamt 1933-1945 abgeholfen worden. Auf Mikrofiche zugänglich sind nun unter anderem die Nachrichten, Meldungen, Mitteilungen und Informationen aus dem Geheimen Staatspolizeiamt, die SD-Monatsberichte, Lageberichte des SD-Hauptamtes, die Meldungen aus dem Reich, die Ereignismeldungen UdSSR, Meldungen aus dem Generalgouvernement, Tagesmeldungen der Einsatzgruppen, Tagesberichte des SD-Leitabschnitts Prag, Meldungen aus Dänemark, Norwegen, Belgien, Frankreich, Polen, aus den Niederlanden, aus Luxemburg, der Slowakei, aus Böhmen und Mähren, Jugoslawien, Ungarn, Italien sowie der Sowjetunion.
Heinz Boberach, der unter anderem bereits 1984 die SD-"Meldungen aus dem Reich" einer breiten Leserschaft in einer 18-bändigen Buchausgabe zugänglich machte, hat nun mit großem Aufwand die Meldungen der anderen Überwachungs- und Verfolgungsinstanzen in den europäischen Archiven ausfindig gemacht. Eine vollständige Edition ist allerdings nicht möglich, weil viele Berichte nicht mehr vorhanden oder im Augenblick nicht auffindbar sind. So weist Boberach selbst darauf hin, dass es in Zukunft noch Möglichkeiten geben kann, fehlende Meldungen aus russischen Archiven zu erhalten. Die geleistete Arbeit an dieser Edition ist kaum hoch genug einzuschätzen, zumal weder die Berichte aus dem Reichsgebiet, noch diejenigen aus den angegliederten und besetzten Gebieten geschlossen überliefert wurden.
Die Überlieferungsgeschichte der nun auf Mikrofiche vorliegenden Meldungen ist bereits für sich genommen ein Stück Zeitgeschichte und wäre eine eigene Untersuchung wert. Ein Teil von ihnen stammt aus dem Altbestand des Bundesarchivs Koblenz, der sich nun in Berlin-Lichterfelde befindet (R 58), andere aus diversen Landeshaupt- und Staatsarchiven, ein Teil wurde in den aus den USA zurückgeführten Akten gefunden, andere stammen aus dem NS-Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit.
Die Mikrofiche-Edition verzichtet, anders als die gedruckten Quellenveröffentlichungen, auf eine Kommentierung. Umso wichtiger ist nun der Erschließungsband. Er bietet zunächst eine ausführliche und sehr hilfreiche Einleitung zur Entstehung und zum Charakter der Berichte aus dem Reichsgebiet und aus den angegliederten und besetzten Gebieten sowie ein Literatur- und Abkürzungsverzeichnis. Als Erschließungshilfen folgen ein chronologisches Verzeichnis der Berichte, eine Konkordanz von Seitenzahlen und Mikrofichenummern sowie eine Übersicht über die in den Berichten behandelten Sachgebiete. Über vier Indizes sind Personennamen, Orte, Institutionen sowie die reichsdeutschen und Emigrantenzeitungen und -zeitschriften aufzufinden. Den Abschluss bildet eine Zeittafel zu Widerstand und Verfolgung.
Ausdrücklich hat der Herausgeber selbst auf die immensen Probleme hingewiesen, die bei der Erschließung der Berichte auftraten. Vor allem Personen- und Ortsnamen verursachten Schwierigkeiten, weil in den Meldungen häufig gleich lautende, aber auch schlicht falsche Namen auftauchen. Dass die Namen "Meiser" und "Meissner" dieselbe Person meinen sollen, wie Boberach in der Einleitung zeigt, ist wohl nur durch zufällige Kenntnisse zu ermitteln. Tatsächlich wird es bei den Berichten kaum möglich bleiben, einen völlig fehlerfreien Index zu erstellen.
Ein Hinweis mag dennoch erlaubt sein, weil er auch den Zusammenhang von Schwierigkeiten der Berichterstellung und Problemen der historischen Aufarbeitung schlaglichtartig erhellt. Die Beamten der Gestapo, des SD oder anderer Instanzen waren immer in besonderem Maße überfordert, wenn es um die Überwachung und Verfolgung von kleinen, konspirativ verfassten Gruppen ging. Dazu gehörte zum Beispiel auch die linkssozialistische Emigrantengruppe "Neu Beginnen", die zwischen 1933 und 1945 selbst "Berichte über die Lage in Deutschland" erstellte und deshalb auch in den Meldungen der staatlichen Verfolgungsbehörden Erwähnung findet. Sie verursachte den Sachbearbeitern immer besondere Probleme. Die Verwirrung der Beamten spiegelte sich, wie man auch aus anderen Veröffentlichungen weiß, deutlich in den Berichten wider. Auf diese Weise sind wohl auch die Irrtümer der damaligen Sachbearbeiter in den Index der Edition gelangt. Hinter dem Pseudonym "Miles" verbarg sich keineswegs "Carl Franck" (wie wohl die Gestapobeamten meinten), sondern Walter Loewenheim, der Gründer von "Neu Beginnen". Die im Index erscheinende Schreibweise "Carl Franck" ist ebenfalls wohl nur auf einen Irrtum der Verfolgungsbehörden zurückzuführen. In Wirklichkeit war Karl Frank, der auch unter dem Namen Paul Hagen und Willi Müller bekannt war, der eigentliche Chef der Auslandsarbeit von "Neu Beginnen". Interessanterweise taucht sein Name in der richtigen Schreibweise, aber mit anderen Seitenzahlen auch auf. Wahrscheinlich müssten in diesem Fall die Namen einfach nur zusammengeführt werden.
Dieser kleine Hinweis schmälert in keiner Weise die außerordentliche Leistung, die gesamten zugänglichen Berichte über die Verfolgung von Regimegegnern im Dritten Reich zusammengestellt zu haben. Der vereinfachte Zugang wird hoffentlich vor allem die Aufarbeitung der europäischen Dimension des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus ein weiteres Stück voranbringen.
Bernd Stöver