Serhii Plokhy / Frank E. Sysyn: Religion and Nation in Modern Ukraine, Toronto: Canadian Institute of Ukrainian Studies Press 2003, XVI + 216 S., ISBN 978-1-89557-136-3, USD 39,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der vorliegende Sammelband umfasst elf Aufsätze, die von den beiden kanadischen Historikern Serhii Plokhy und Frank E. Sysyn zwischen 1990 und 2000 publiziert wurden. Einer erscheint hier zum ersten Mal. Die meisten Beiträge sind der Orthodoxie, die übrigen drei der Griechisch-Katholischen Kirche in der Ukraine gewidmet.
Ausgangspunkt ist die von den Verfassern hervorgehobene Tatsache, dass in der Ukraine eine der größten orthodoxen Gemeinden existiert und dass die griechisch-katholische die größte mit Rom unierte Ostkirche darstellt. Deren Bedeutung und Wirkmächtigkeit im Kontext des historischen und gegenwärtigen nation-building-Prozesses der Ukraine habe in der Vergangenheit nur bei Fachleuten Aufmerksamkeit gefunden. Daher soll die vorliegende Publikation die Interaktion von Religion, Staat und Nation in der Ukraine beleuchten und diese vor allem auch im Zusammenhang des "Wiederauflebens des ukrainischen nationalen Bewußtseins" (XV) in der Endphase der UdSSR verdeutlichen. Als historischer Hintergrund wird die facettenreiche Geschichte der Kiever Metropolie im 16. und 17. Jahrhundert, ihre prekäre Situation zwischen Moskau und Konstantinopel in einer Zeit, in der sie die Einheit der Kirche als nationale Institution über politische Grenzen hinweg zu wahren hatte, skizziert. Die Autokephalie war demnach die einzige Möglichkeit, sich Dominierungsversuchen der russischen Hierarchie zu entziehen, und begründete eine Tradition, die dann auch im 20. Jahrhundert die orthodoxe Kirchenpolitik in der Ukraine bestimmte und weiter bestimmt. Auf sie rekurrierten die Stifter der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche in der Ukraine ebenso wie die Gründer der Ukrainisch Griechisch-Orthodoxen Kirche in Kanada 1918. Wie sehr dabei die Enttäuschung über russophile Tendenzen in den Reihen der zudem auch lateinisch orientierten Griechisch-Katholischen Kirche eine wichtige Rolle spielte, wird von den Verfassern auch in anderen komplexen Zusammenhängen wie etwa der Diskussion der vatikanischen Kirchenpolitik gegenüber der Ukraine deutlich gemacht.
Die verlorengegangene Einheit der "heiligen Rus" demonstriert in der Gegenwart die Existenz von drei orthodoxen Kirchenorganisationen in der unabhängigen Ukraine, die nicht nur miteinander konkurrieren, sondern sich auch von den Ansprüchen der Griechisch-Katholischen Kirche auf die Sophienkathedrale herausgefordert sehen. Dass dabei vor allem politische Intrigen und persönliche Ambitionen neben kanonischen Fragen und unterschiedlichen Autokephaliekonzepten schwer zu überwindende Hürden bilden, gehört zu den Einsichten, die man aus Plokhys und Sysyns Darstellungen auch gewinnt. In ihnen wird zudem explizit der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass ungeachtet der konservativen Grundeinstellung der orthodoxen Kirche diese früher oder später der politischen Wirklichkeit Rechnung tragen und die ukrainische Autokephalie akzeptieren werde.
Die Autoren wollten mit dieser Publikation keine Kirchengeschichte der Ukraine vorlegen, obwohl man trotz mancher Lücke viel dazu erfährt. Ihr Anliegen besteht primär in dem Versuch zu verdeutlichen, welch wichtige Funktion die orthodoxe Kirche in historischen Umbruchzeiten - speziell im russisch-ukrainischen Beziehungsgeflecht - als nationale Institution in einer kulturell heterogenen und politisch fragmentierten Ukraine gespielt hat und wie sehr die Autokephaliebestrebungen des 20. Jahrhunderts auch Ausdruck von sozialen Modernisierungserscheinungen und Instrument des nationalen Selbstbehauptungswillens der Ukrainer waren und weiter sind.
Es ist sehr zu begrüßen, dass die bisher in verschiedenen Reihen und Periodika erschienenen Beiträge jetzt in kompakter Form zugänglich sind.
Rudolf A. Mark