Rezension über:

Bernd Villhauer: Aby Warburgs Theorie der Kultur. Detail und Sinnhorizont, Berlin: Akademie Verlag 2002, 162 S., ISBN 978-3-05-003658-8, EUR 34,80
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Martin Warnke
Kunstgeschichtliches Institut, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Martin Warnke: Rezension von: Bernd Villhauer: Aby Warburgs Theorie der Kultur. Detail und Sinnhorizont, Berlin: Akademie Verlag 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 4 [15.04.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/04/2287.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Bernd Villhauer: Aby Warburgs Theorie der Kultur

Textgröße: A A A

Die Jenenser philosophische Dissertation benennt auf Seite 7 ihre "Ausgangsfragestellung" klar: "Unter philosophischen Gesichtspunkten soll die Arbeit vor allem Folgendes leisten: Die Konturen von Warburgs kulturtheoretischen Ansätzen sollen schärfer gezeichnet werden, als das bisher der Fall war. Eine Darstellung der Konstellationen, in die sein Werk eingerückt werden kann, wird sowohl das Herkommen Warburgs, seine Prägung durch die Geschichtsauffassung Karl Lamprechts, den Evolutionismus oder nietzscheanische Sichtweise, aber auch literarische Einflüsse (vor allem Thomas Carlyles) wie auch die Wirkungsgeschichte Warburgs (für Philosophen vielleicht am sichtbarsten in Werk und Person Ernst Cassirers, aber auch bei Edgar Wind und Erwin Panofsky) einem intensiveren Verständnis öffnen". Diese beachtliche Reihe gewichtiger Stichworte, zu denen man schon bei Gombrich einiges erfahren konnte, wird hier nochmals ausführlicher, öfters anhand von Sekundärliteratur, durchgegangen: die "Lehrer" Lamprecht, Usener und Burckhardt, die "Leitfiguren" Carlyle, Darwin und Nietzsche. Dabei verfolgt der Verfasser eine Grundfrage: Wie lässt sich ein historisches Faktum, ein Detail, der einzelne Fall, das kontingente Ereignis einem ganzheitlichen Begriff zuordnen, in ein synthetisches Konstrukt oder in eine verallgemeinernde Argumentation überführen?

Der Autor möchte seine Untersuchung, etwas kryptisch, gegen "eine bestimmte Tradition der Warburg-Deutung" gewendet wissen, da Warburg "unter einseitigem Blickwinkel wiederentdeckt" wurde. Der neue Blickwinkel sieht Warburg eine "Szientifizierung" der Kunstgeschichte auf anthropologischer Grundlage verfolgen. Dies geschah mithilfe zahlloser Bücher, aus denen Warburg immer wieder etwas aufschnappt: Für seinen Stilbegriff sind "Verbindungslinien zu Goetheschen Auffassungen" zu ziehen; für den Symbolbegriff wird Hans Schmidkunz', von Warburg studiertes Buch "Über die Abstraktion" eingeführt, sodass Warburg "im Anschluß an Schmidkunz wie an Carlyle (aber auch in Fortführung der Problematik des 'Lamprecht-Streits')" (67) die einzelnen Details mit Gesetzen und Strukturen zu verrechnen lernte. Für seine Kulturtheorie stehen Heinrich Rickert und Wilhelm Windelband Pate. Es wird Gelegenheit genommen, auch Walter Benjamins Erinnerungstheorie zu erörtern, die ihrerseits in "Anknüpfung an Baudelaire" und Proust entwickelt wurde, sodass Erinnerung vorgestellt wird "als eine Verstetigung von Gleichgewichten zwischen verschiedenen Kräften".

Erst eigentlich im achten Kapitel gelangt das Verhältnis des Einzelnen zum Allgemeinen in den Horizont einer Kulturtheorie. "Systematisierenden Wert" haben für Warburg drei Begriffe: 1) Die Handlung, wenn etwa Selbsterkenntnis rituell oder Welterkenntnis in eine Lebensform umgesetzt wird, 2) die Angst, die Warburg subjektiv zu bewältigen hat, ohne die es aber "keine kulturbezogenen Rationalität gibt"; 3) die Orientierung, die gegen jene Ängste "integrierende Sinnhorizonte" mobilisiert. Im letzten Kapitel werden die "Bausteine einer Kulturtheorie" zusammengetragen, die vor allem darauf beruhen, dass Warburg die lebensweltlichen Grundlagen aller kulturellen Sinnstiftungen hervorgehoben wissen will, womit er Heidegger näher steht als dem immer objektivierenden Cassirer. Anders ausgedrückt: "Die vorliegende Arbeit verfolgte das Ziel, zu zeigen, wie die Theoriedynamik der methodologischen Selbstdefinition in der Binnenlogik seines Faches, nämlich der Kunstgeschichte, philosophische Fragen erzwang" (141).

Dass man manche Bekannte verfremdet findet, indem Georg Syamken hier Werner, Jesinghausen Jessinghausen heißt oder die Kritischen Berichte schon zu Michael Diers Zeiten den 415. Band erreicht haben, ist ebenso wenig gravierend wie der Umstand, dass manches Zitat etwas modifiziert erscheint, wenn zum Beispiel nach Gombrich bei Warburg Archetypen "menschlicher Erfahrungen" hier als Archetypen "menschlicher Reaktionen" fortleben oder wenn nach Raulff ein Vogel zur Hieroglyphe wird, die nach Warburg "gelesen sein soll", hier aber "gelesen sein will", oder wenn man gewichtige Worte selbst einsetzen muss, wie auf Seite 120, wo vom ideologischen Milieu Warburgs gesprochen wird, "in dessen Schwerefeld er immer wieder Maßnahmen der Eroberung von entwickelte" oder wenn man lesen muss: "The library war organically structured...". Dass aber nach Warburgs Dissertation die "Masse" und nicht mehr die "Haare" zu dem bewegten Beiwerk zählen sollen (55), lässt letztere zu Berge stehen.

Martin Warnke