Eduard Seidler / Karl-Heinz Leven: Geschichte der Medizin und der Krankenpflege, 7., überarb. und erw. Auflage, Stuttgart: W. Kohlhammer 2003, 333 S., ISBN 978-3-17-017624-9, EUR 18,90
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Wie kann man mehr als 3000 Jahre Medizin- und Pflegegeschichte auf wenigen hundert Seiten für historische Laien anschaulich darstellen? Das vorliegende Lehrbuch von Eduard Seidler und Karl-Heinz Leven, beide Professoren der Universität Freiburg mit langjähriger wissenschaftlicher und didaktischer Erfahrung, liefert eine Version dieser Quadratur des Kreises, die selbst schon Geschichte ist: Mit 38 Jahren ist das Werk, das ursprünglich nur als knappe Pflegegeschichte konzipiert war, immerhin das älteste noch im Buchhandel erhältliche Lehrbuch des medizinhistorischen Fachzweigs, doch hat es diese Zeit keineswegs unverändert überstanden.
Schon die letzte Auflage von 1993 beinhaltete eine gewichtige Änderung, nämlich die gleichrangige Behandlung von allgemeiner Medizingeschichte und Pflegegeschichte. Dies entsprach dem synthetisierenden (aber nicht harmonisierenden) Ansatz der Autoren, der die gemeinsamen Wurzeln beider Disziplinen herauszustellen sucht. Auch die jüngste Neuauflage führte zu einer deutlichen Erweiterung und Aktualisierung: Dem Co-Autor Leven ist die wissenschaftliche Aufwertung sowie die völlige Umstrukturierung des Kapitels zur antiken Medizin und zu Byzanz zu verdanken, während der ursprüngliche Verfasser Seidler die Darstellung des 20. Jahrhunderts überarbeitet hat.
Im Wesentlichen konstant geblieben ist die Konzeption des Lehrbuchs: eine für Studium, Aus- und Weiterbildung in Heil- und Pflegeberufen geschriebene Einführung, die keine besonderen Geschichtskenntnisse voraussetzt, ohne Anmerkungen auskommt und sehr übersichtlich gegliedert ist. In streng chronologischer Abfolge wird stets der nach Medizin- und Pflegegeschichte getrennten Fachdarstellung eine allgemeinhistorische Einführung in die jeweilige Epoche vorangestellt. Lediglich im Anhang finden sich sehr begrenzt weiterführende Literaturangaben zu einzelnen Epochen.
Die Darstellungsweise wirkt im guten Sinn konservativ: Sie beschränkt sich weitgehend auf den vergleichsweise ausführlichen (gut lesbaren, flüssig geschriebenen und anschaulichen) Text, bei dem nur noch an wenigen Stellen eine etwas veraltete Sprache auffällt, etwa wenn vom "sittlichen Ernst" der altindischen Religion gesprochen wird (31). Es fehlen weiterhin jegliche zusammenfassende Schemata und Tabellen, die für moderne Lehrbücher so charakteristisch geworden sind; lediglich am Ende des Buches findet sich eine Landkarte. Das Buch bietet mehr als 70 Illustrationen sowie im Anhang ausgewählte Quellen zu jeder Epoche (im Wesentlichen identisch mit der vorigen Auflage).
Unvermeidlich ist die weitgehende Beschränkung auf 'große' Personen und Entdeckungen, die allerdings nicht im Sinne einer positivistischen Fortschrittsgeschichte präsentiert werden. Von großem Nutzen kann das Register werden, das sich nicht nur auf Namen beschränkt, sondern auch die wichtigsten Sachbezüge enthält.
Ein solches Lehrbuch, das an zahlreiche Sachzwänge gebunden ist, kann nur im Vergleich zu anderen im Buchhandel erhältlichen Publikationen mit derselben Zielsetzung sinnvoll beurteilt werden. Und hier schneidet das Buch von Seidler und Leven (abgesehen von der fehlenden didaktischen Modernisierung, über die man ohnehin verschiedener Meinung sein kann) gar nicht schlecht ab. Auch wenn professionelle Medizinhistorikerinnen und Medizinhistoriker naturgemäß den einen oder anderen Sachverhalt anders dargestellt oder gewichtet hätten (selbstredend jede und jeder mit Rücksicht auf die eigenen Schwerpunkte), scheint doch das Buch fachlich gesehen zumindest in seiner ersten Hälfte (bis 1700) die meisten Informationen zu bieten; insbesondere deren Einbettung in den allgemein- und kulturhistorischen Kontext, ohne den die zeitgenössische Medizin niemals zu verstehen ist, wirkt überzeugend, etwa im Vergleich zu dem Lehrbuch von Wolfgang Eckart [1], das einen stärker sozialhistorischen Akzent setzt, aber auch zu dem von Peter Schneck. [2] Beiden Werken hat es die Integration der Pflegegeschichte voraus, die auch einem angehenden Mediziner nicht schaden kann und die sogar den ausschließlich für Pflegekräfte verfassten Texten von Werner Schnell [3] sowie von Ute Möller und Ulrike Hasselbarth [4] für die Zeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts überlegen ist.
Für die Darstellung der Vormoderne ist lediglich zu fragen, ob nicht die unvermeidliche Entwicklung vom Lehrbuch zum Fachtext, die ein solches Werk mit den verschiedenen Auflagen nehmen muss, schon zu weit fortgeschritten ist. So sehr das Kapitel zur antiken Medizin durch den neuesten Forschungsstand beeindruckt, so sehr drängt sich der Eindruck auf, dass insbesondere akademisch nicht vorgebildete Pflegekräfte, aber auch manche Medizinstudenten intellektuell damit vielleicht überfordert sein könnten.
Etwas anders sieht die Darstellung der modernen Medizin- und Pflegegeschichte aus, die den nur mit der Gegenwart vertrauten Laien oft am meisten interessieren dürfte. Hier weist der Seidler / Leven gegenüber den genannten Konkurrenten zum Teil deutliche Informationslücken auf, nicht zuletzt durch seine weitgehende Beschränkung auf den deutschen Sprachraum. Freilich stellt sich angesichts der uferlosen Spezialisierung der Medizin in den letzten hundert Jahren grundsätzlich die Frage nach einer sinnvollen Auswahl - die Darstellung einzelner Disziplinen bei Schneck [5] wirkt mindestens genauso unbefriedigend; am ehesten sagt hier Eckarts Darstellung [6] neuer diagnostischer und therapeutischer Verfahren zu. Im Bereich der Pflegegeschichte weist die Gliederung von Möller und Hasselbarth [7] nach organisatorischen, politischen und juristischen Strukturen einen neuen Weg, der dem Buch von Seidler und Leven zumindest neue Impulse geben könnte.
Für den Fachhistoriker ist der Seidler / Leven zwar nicht in die Jahre gekommen; aus Sicht der Studierenden könnte er aber dennoch altmodisch wirken. Wahrscheinlich ist ein solches Buch, das auf stetige Lektüre statt auf Info-Hopping angelegt ist, nicht durch ein paar Grafiken und Tabellen zu modernisieren, aber etwas umfangreichere, gut gegliederte Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel wären sicher nützlich. Für Examenskandidaten, die den Spaß am Lesen einem bloßen Pauken von Fakten vorziehen, würde ich ihn dennoch unbedingt empfehlen, zumindest für die frühen Epochen. Angesichts der gerade erfolgten Aufwertung der Medizingeschichte zum Pflichtfach im Rahmen der neuen Approbationsordnung wäre es schön, wenn auch noch eine - behutsam angepasste - achte Auflage zu Stande käme.
Anmerkungen:
[1] Wolfgang Eckart: Geschichte der Medizin, 4. Auflage, Berlin / Heidelberg 2001.
[2] Peter Schneck: Geschichte der Medizin systematisch, Bremen 1997.
[3] Werner Schnell: Kurzgefaßte Medizin- und Krankenpflegegeschichte, 2. Auflage, Hagen 1999.
[4] Ute Möller / Ulrike Hasselbarth: Die geschichtliche Entwicklung der Krankenpflege. Hintergründe, Analysen, Perspektiven, 2. Auflage, Hagen 1998.
[5] Siehe Anmerkung 2.
[6] Siehe Anmerkung 1.
[7] Siehe Anmerkung 4.
Daniel Schäfer