Martin Sabrow / Ralph Jessen / Klaus Große Kracht: Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, München: C.H.Beck 2003, 378 S., 12 Abb., ISBN 978-3-406-49473-4, EUR 15,90
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Die Zeitgeschichte ist ein vermintes Gelände. Denn im Gegensatz zu anderen Epochen gehört sie nicht allein den an sich schon streitlustigen Historikern. In der "Epoche der Mitlebenden", wie Hans Rothfels diese Periode einmal genannt hat, überlagern sich die Erfahrungen der Zeitgenossen, kollektive Erinnerungen und wissenschaftliche Forschung. Alle drei zusammen ergeben mitunter ein explosives Gemisch, das zu heftigen Eruptionen führen kann. Der Streit um die erste Wehrmachtsausstellung war so ein Fall, wo zeitgeschichtliche Kontroversen zugleich auch Stellvertreterkriege um die Deutungshoheit nationaler Selbstverortung waren. Ähnlich auch die Debatte um die moralische Legitimation des alliierten Bombenkriegs gegen Deutschland: Da machte mit medialem Rückenwind ein Buch Karriere, dessen wissenschaftlicher Wert äußerst fragwürdig ist, das zugleich aber ein offenkundig verstärktes Bedürfnis bediente: Nach Jahren angeblich politisch verordneter Tabus endlich über das deutsche Leid und die deutschen Opfer von Krieg und Vertreibung sprechen zu dürfen. In der danach einsetzenden Flut an Publikationen, Fernsehdiskussionen und Sonderheften spiegelte sich jene in die Vergangenheit verlagerte Suche nach einer neuen politischen Kultur des vereinten Deutschland, die in der aktuellen Debatte um das Vertriebenen-Zentrum ihre bisweilen bizarre Fortsetzung findet.
Zeitgeschichte ist Streitgeschichte, und der von Martin Sabrow, Ralph Jessen und Klaus Große Kracht klug komponierte Sammelband spannt deshalb einen weiten Bogen zeithistorischer Debatten: Von der "Fischer-Kontroverse" Anfang der 1960er-Jahre um die deutsche Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges, vom "Historikerstreit" in der Ära Kohl, von der Debatte um die "Singularität" des Massenmords an den Juden bis hin zur Rezeptions- und Mediengeschichte von Daniel Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker", sowie dem Streit um die Wehrmachtsausstellung, der Bedeutung der "68" für die Geschichte der Bundesrepublik und der Rolle der deutsch-deutschen Historiker in den Jahren der Wiedervereinigung. Sieht man von den eher impressionistischen Erkundungen Brigitte Seebacher-Brandts zum "Selbstverständnis der Zeitgeschichte" ab, so sind die Beiträge überwiegend informativ und spannend zu lesen, bisweilen auch mit einem subjektiv-kämpferischen Einschlag wie bei Imanuel Geiß.
Nicht alles ist neu, manches hat man so oder in ähnlicher Form schon an anderer Stelle gelesen: aber als Kompendium zeithistorischer Konflikte, ihrer politischen Hintergründe und gesellschaftlichen Wirkungen sowie als Dokument der für Historiker bisweilen schmerzlichen Selbsthistorisierung ist der Band von großem Nutzen.
Dazu tragen nicht zuletzt die Aufsätze bei, die sich mit den historischen Kontroversen anderer Länder wie Frankreich, Polen, Österreich oder Spanien beschäftigen. Sie weisen auf die europäische Perspektive der Zeitgeschichte und ihre jeweils nationalen Besonderheiten für die kollektiven Identitätskonstruktionen hin. Spanien ist so ein Fall: Nicht Erinnern, sondern Vergessen war dort, nach dem Tod Francos und dem gewaltfreien Übergang von der Diktatur zur Demokratie, die Form, wie die Vergangenheit "bewältigt" werden sollte. Die wissenschaftliche Zeitgeschichte galt, wie es David Rey eindringlich schildert, als "Büchse der Pandora", die besser verschlossen hält, wer kein größeres Unheil herauf beschwören will. Wer sich an die Aufarbeitung der spanischen Geschichte seit den Bürgerkriegsjahren machte, der schien den noch brüchigen Konsens zwischen den alten Eliten der Franco-Arä und den neuen demokratischen Kräften zu gefährden. Zeithistorische Aufklärung passte über viele Jahre nicht zum "Schweigekonsens", der die Demokratie erst möglich gemacht hatte.
So kamen viele wissenschaftliche Anstöße von außen, vor allem aus Großbritannien und Amerika. Mit wachsendem zeitlichen Abstand und einer inzwischen gefestigten demokratischen Kultur hat sich die Auseinandersetzung um die spanischen Zeitgeschichte in den letzten Jahren jedoch spürbar verändert. Inzwischen wird, wie auch nach der Wiedervereinigung in Deutschland, über die Umbenennung von Straßen gestritten, die die Namen alter franquistischer Generäle tragen; und auch die Entschädigung von Zwangsarbeitern der Franco-Diktatur steht auf der politischen Tagesordnung. Und so dürfte für Spanien gelten, was die Herausgeber auch für die Bundesrepublik festhalten: der Streit um die Geschichte, die Chance zur Kritik an Mythenbildung und politischer Instrumentalisierung der Vergangenheit ist, bei aller Mühsal, der große "Vorzug einer offenen Gesellschaft".
Dietmar Süß