Martina Lehner: Reise ans Ende der Welt (1588-1593). Studie zur Mentalitätengeschichte und Reisekultur der Frühen Neuzeit anhand des Reisetagebuches von Georg Christoph Fernberger von Egenberg (= Beiträge zur Neueren Geschichte Österreichs; Bd. 13), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2002, 456 S., ISBN 978-3-631-30637-6, EUR 60,30
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In den letzten Jahrzehnten hat die frühneuzeitliche Reiseforschung durch die Kulturanthropologie - besonders hinsichtlich der Thematik der Begegnung mit dem Fremden - einen enormen Auftrieb erlebt. Für die quellenkritische Beschäftigung mit Reisetagebüchern und gedruckten Reisebeschreibungen sind Impulse der Ego-Dokumentenforschung wichtig gewesen. In einer äußerst detailreichen Studie liefert Martina Lehner eine Analyse des lateinisch gehaltenen Reisetagebuches des oberösterreichischen Adeligen Georg Christoph Fernberger, das 1999 in deutscher Parallelübersetzung von Ronald Burger und Robert Wallisch als Band 12 der gleichen Reihe ediert wurde: "Reisetagebuch (1588-1593) Sinai, Babylon, Indien, Heiliges Land, Osteuropa" (zitiert hier als "Tagebuch"). Es geht der Autorin um eine kommentierende Rekonstruktion der Reiseerfahrungen, die nicht nur aus dem Text selbst gespeist, sondern durch andere Reiserelationen beziehungsweise andere Sekundärquellen vertieft und ergänzt wird. So zeigt sie, inwiefern Fernbergers Beobachtungen einem Standardschema folgen, indem sie seine Notizen mit denen seiner Zeitgenossen, etwa seines jüngeren Begleiters Hans Christoph Teufel oder von Samuel Kiechel, vergleicht.
Angesichts einer chronologischen Anordnung der Studie hätte man sich doch eine substanzielle Einleitung gewünscht, in der die Autorin ihre methodische Herangehensweise, die Gründe, die sie bewegten, das Material so und nicht anders zu organisieren, sowie die Schwerpunkte der Untersuchung benannt und diese in die Forschungslandschaft eingeordnet hätte. Die einzelnen Themen werden jedoch jeweils dann abgehandelt, wenn die Chronologie von Fernbergers Text gerade dazu Anlass bietet. Folgerichtig wird erst dort über die sich verändernde Motivation des Reisenden gesprochen, wo dies in seiner eigenen Erzählung thematisiert wird, nämlich kurz vor der Abreise aus Bagdad nach Indien (99-102). Was als Pilgerfahrt begann, entwickelt sich zum von Fernberger selbst erkannten (vergeblichen) Versuch, ein stets wachsendes Fernweh zu befriedigen: "Erfüllt doch fast alle Reisenden, die nicht eines Geschäftes wegen oder auch aus bloßer Neugier ihre Heimat verlassen, dasselbe Gefühl: Je mehr Länder und Orte sie durchstreifen und je mehr sie sich von zu Hause entfernen, desto weiter wünschen sie vorzudringen, und niemals geben sie sich mit dem Reiseziel zufrieden, das sie sich bei ihrer Abreise gesetzt haben. Dies habe ich am eigenen Leib zur Genüge erfahren" (99). Die Frage der Reisemotivation wird wieder beim Abschnitt über Ceylon aufgegriffen (303). Erst bei Ankunft Fernbergers im Heiligen Land wird in einem längeren Abschnitt (359-361) die Funktion der Apodemik für das Reisen in der Frühen Neuzeit vorgestellt, ohne dass darüber reflektiert wird, welche Auswirkungen diese Systematik des Reisens vielleicht für Fernbergers Text als Ganzes oder für seine eigenen Beobachtungsstrategien gehabt haben könnte. Kurze Bemerkungen zu stilistischen Fragen, bis hin zu der lapidaren Feststellung, dass der im Tagebuch als "Du" Angesprochene der Cousin Fernbergers sei, "an den sich das Reisetagebuch letztlich richtete" (163), findet man im ganzen Text verstreut.
Die Angaben zu dem vom Reisenden Gesehenen und Notierten, die das Gerüst der Studie bilden, werden in den Kontext der tatsächlichen historischen Gegebenheiten gestellt. So wird bei Fernbergers Anblick der türkischen Flotte bei Suez (51) die Geschichte der Wasserstraße kurz referiert - vom 2. Jahrtausend vor Christus bis zum Bau des Suezkanals. Gelegentlich nimmt diese kulturhistorische Einbettung des Erzählten den Charakter eines längeren Exkurses an. Das liegt durchaus im Sinne der Autorin, die von Fernbergers Text ausgehend jeweils Überlegungen zur Kulturgeschichte des Reisens anstellen möchte. Um welche Themenbereiche es sich hier handelt, wird dem Leser lediglich aus den Kapitelunterschriften im Inhaltsverzeichnis deutlich - etwa beim Kapitel "Am Ganges", wo erläutert wird: "Mythen & Monstren. Ästhetik. Glaube". Das frühneuzeitliche Verständnis der exotischen Tiere, die Fernberger in Kairo gesehen hatte und in einem Absatz von 20 Zeilen im Tagebuch (Tagebuch, 24) beschrieb, wird dem Leser auf insgesamt 5 Seiten näher gebracht (35-41). Die unterschiedliche Beschreibung des Abstiegs in die Grabfelder von Memphis bei den Reisenden Fernberger, Teufel und Kiechel gibt Anlass zur ausgreifenden Reflexion über das verschobene "Parallelogramm der Ängste" in der Frühen Neuzeit (42). Fünf Zeilen über die Kannibalen der Andamanen-Insel bei Ferneberger (Tagebuch, 102) ergeben einen historischen Aufriss der Begegnungen mit Kannibalen von Herodot bis ins 18. Jahrhundert (140-145), ohne dass dem Leser die Gewichtung dieses Themas im Tagebuch Fernbergers klar wird.
Gelegentlich fällt es nicht leicht, zwischen dem aus Fernbergers Text Referierten und der Kontextualisierung der Autorin zu unterscheiden. Hier ist es wiederum nützlich, die Edition des Tagebuchs zur Hand zu nehmen. Ein Beispiel: Die Autorin beschreibt ausführlich, dass beim Abschied der Reisegruppe aus dem Katharinenkloster im Sinai jedem Reisenden eine griechische Bescheinigung über den Besuch des heiligen Ortes ausgehändigt wurde (58). Die Information zu diesem Vorgang stammt, wie erst aus der Fußnote zu vermuten, ausschließlich aus der Beschreibung von Fernbergers Reisebegleiter Johann Christoph Teufel. Wir erfahren, dass zur humanistisch geprägten adeligen Bildung der Zeit wohl die griechischen Buchstaben gehörten und dass "kein Pilger auf dieses "Patent" als beweiskräftiges Souvenir" hätte verzichten wollen. Es wird jedoch nicht auf mögliche Gründe dafür eingegangen, dass Fernberger dieses für den Pilger höchst wichtige Dokument mit keiner Silbe im eigenen Text erwähnt, während Teufel ihn in voller Länge abschreibt und Samuel Kiechel riesige Anstrengungen unternahm, um überhaupt in den Besitz einer solchen Bescheinigung zu gelangen. Der Abschied aus dem Kloster wird von Fernberger selbst in einem einzigen Satz abgehandelt: "Am nächsten Tag verabschiedeten wir uns nach einem Gebet in der großen Kirche von dem Vikar und den Mönchen und setzen unsere Reise in Richtung zum Roten Meer fort" (Tagebuch, 34). Die Autorin beschreibt die Reise Fernbergers auf der Grundlage enormer Quellenkenntnis, die sich in ihren detailreichen Anmerkungen niederschlägt. Gelegentlich führt dieses Wissen zu einem beunruhigenden Umgang mit durchaus spröden Passagen des Originals. So entwickelt sie aus dem Satz "Auf Ceylon sah ich Zimtbäume und habe dort mit eigenen Händen, da die Jahreszeit geeignet war, Zimt geerntet, worüber oben ausführlicher gesprochen wurde" (Tagebuch, 206), das Bild eines modern anmutenden Öko-Touristen Fernberger, der wie die heutigen "blaßhäutigen Touristen bei der Orangen- oder Olivenernte in Südeuropa" sich nicht scheue, unstandesgemäße Arbeit zu verrichten, um eine "unvergeßliche Urlaubserinnerung" zu verbuchen (303). Ob es sich bei Fernberger um die Ernte eines einzelnen Blattes oder tatsächlich um die Verrichtung einer sonst den Sklaven auf Ceylon vorbehaltenen Arbeit handelt, ergibt sich jedoch keineswegs aus der Quelle. Das lateinische Original wirkt noch lapidarer: "In Seilan vidi arbores cinamomi. Quod ipse meis manibus, qui annus tempus ferebat, detraxi. De quo superius plura." In der erwähnten früheren Passage ("oben ausführlicher") beschrieb Fernberger lediglich die Techniken der Ernte, nicht eigene Arbeit. Ganz problematisch wird es, wenn die Autorin Vermutungen anstellt, warum Fernberger gewisse Themen gar nicht erwähnt: "Reinhold Lubenau füllte mit dem osmanischen Strafvollzug gleich ein ganzes Kapitel 'Von der Türcken Justitia', während Georg Christoph Fernberger dem Thema vielleicht längst in früheren Schreiben an seinen Cousin Genüge getan hatte, da er nun mit keinem Wort mehr darauf zurückkam" (390).
Die Autorin begleitet Fernberger vom Moment seiner Abreise bis zu seinem Tod mit 37 Jahren im kaiserlichen Heerlager im ungarischen Altenburg im Jahre 1594 und bietet eine dichte Rekonstruktion seiner Reiseroute bis nach Indien sowie seiner Reiseerlebnisse. Der spannend zu lesende Text ist mit einem extensiven Anmerkungsapparat versehen. Zu beklagen bleibt jedoch, dass dem Leser kein Einblick in die zugrunde liegenden methodologischen Überlegungen gegeben, er nicht auf den eigentlichen Zweck der Studie vorbereitet wird und dass ein Register zur Erschließung des reichhaltigen Materials fehlt.
Jill Bepler