Dagmar Vogel: Heinrich Graf von Brühl. Eine Biografie, Bd. 1: 1700-1738 (= Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit; Bd. 29), Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2003, 693 S., ISBN 978-3-8300-0859-0, EUR 168,00
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Graf Heinrich von Brühl genießt in Wissenschaft und Öffentlichkeit keinen guten Ruf. Der sächsische Premierminister gilt immer noch meist als gewissenlose, heuchlerische und niederträchtige Kreatur, die sich auf Kosten Sachsens und seiner Bevölkerung maßlos bereichert habe, das Land dagegen durch eine unglaubliche Verschwendung beziehungsweise Fehlinvestition von Mitteln wirtschaftlich und politisch ruiniert und dessen Leute in Armut gebracht und ins Unglück gestürzt habe. Dieses düstere Bild von Brühl geht auf Friedrich den Großen zurück, der aus persönlichen wie politischen Gründen alles daran setzte, den sächsischen Premier in den Augen der Welt zu diskreditieren. Wie in anderen Fällen auch übernahmen die borussischen Bewunderer des großen Königs im 19. und 20. Jahrhundert, die in Deutschland lange Zeit das Geschichtsbild bestimmten, Friedrichs Urteil kritiklos oder verschärften es sogar.
Selbst in Sachsen, wo sich die Landesgeschichtsschreibung gegen die oft einseitigen Interpretationen der preußischen Historiker wehrte und die sächsischen Verdienste für die deutsche und europäische Geschichte angemessen herauszustellen bestrebt war, fand Brühl keine Gnade. Die hauptsächlich auf den Akten des Brühl'schen Familienarchivs in Pförten beruhende, bedeutende Biografie des Premierministers aus der Feder Aladárs von Boroviczény (nicht Adalar, wie Dagmar Vogel Seite 4 schreibt) aus dem Jahr 1930 etwa, die Brühl zum ersten Mal in hellerem Licht zeigte, wurde von dem Nestor der sächsischen Geschichtsschreibung, Hellmut Kretschmar, ausgerechnet in den "Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte" als nicht auf den Tatsachen basierend abqualifiziert. [1] Weitere wissenschaftliche Versuche, dem Premier gerecht zu werden, hat es bis in jüngste Zeit kaum gegeben. Bis heute ist daher das dunkle Porträt Brühls wenig aufgefrischt worden.
Dieses im Anschluss an den Versuch Boroviczénys von vor über siebzig Jahren zu tun, hat sich nun Dagmar Vogel vorgenommen. Sie möchte Brühl "erneut in den Mittelpunkt einer sachlich-historischen Biographie stellen" (6). Zu diesem Zweck hat die Autorin, die bislang durch populärwissenschaftliche Werke über das "Augusteische Zeitalter" der sächsischen Geschichte hervorgetreten ist, den umfangreichen Nachlass Brühls im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden durchgesehen und ausgewertet. Herausgekommen ist ein erster Band, der auf fast 700 Seiten so detailliert wie nur möglich den Werdegang und Aufstieg Heinrichs von Brühl zu dem wichtigsten Minister Sachsens in der Zeit zwischen 1700 und 1738 beschreibt.
Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Deren erster ist Herkunft, Jugend und Aufstieg Brühls zwischen 1700, seinem Geburtsjahr, und 1733, dem Todesjahr Augusts des Starken, gewidmet. Er enthält ein Kapitel über die Familie von Brühl (9-13), eines über den herzoglich-sächsischen Hof zu Weißenfels (15-32), eines über Brühl als Page bei Frederike Elisabeth, der Witwe Herzog Johann Georgs (33-41), ein weiteres über seine Zeit am Hof Augusts des Starken (43-84) sowie ein letztes über seinen Weg vom Kammerjunker zum Minister (85-424). Teil zwei, "Der junge Staatsmann", umfasst dann das Kapitel "Diplomatische Feuertaufe" (425-661). Ein Quellenverzeichnis (663-692) und das Inhaltsverzeichnis (693) beschließen den Band.
Das Inhaltsverzeichnis macht sofort die Darstellungsweise der Autorin deutlich: Sie folgt der Chronologie der Ereignisse. Und wie der Umfang des Buches zeigt, beschränkt sie sich dabei keineswegs auf das Leben Brühls, schreibt also entgegen ihrer Absicht keine Biografie. Mit deren Anforderungen im Allgemeinen hat sie sich auch gar nicht auseinander gesetzt. Vogel möchte nämlich noch mehr. Sie möchte auch "ein Zeitbild der sächsischen und europäischen Geschichte des ersten Drittels des achtzehnten Jahrhunderts" geben (Buchrücken). Die Konsequenz aus Darstellungsweise und weitgestecktem Ziel aber ist, dass die einzelnen Abschnitte von Brühls Leben und die Ereignisse der sächsischen und europäischen Geschichte abwechselnd hintereinander stehen - und das in der Regel unverbunden.
Nur ein Beispiel von vielen: Im Sommer 1728 begann August der Starke damit, die Kompetenzen des "Etranger-Departements", des Außenministeriums also, einzuschränken. "Die an den fremden Höfen akkreditierten Minister durften [nun] lediglich Vorschläge überreichen, über deren Resonanz sie August II. berichteten, bevor es zu Verhandlungen kam. Falls die andere Seite Geheimvorschläge unterbreitete, verlangte der König darüber Informationen durch einen separaten versiegelten Brief mit der Aufschrift 'au Roi'. Diesen zu öffnen behielt er sich selbst vor. Die übrige Diplomatica [!] wurde als versiegelte Papiere in einem Umschlag an die Paketadresse des 'Ministers vom Dienst' gesandt. Dieser händigte sie nach Einsichtnahme dem Geheimen Kabinettsekretär zur Bearbeitung aus". Hier folgt der übliche Absatz. Dann geht es weiter: "Den Brühlschen Brüdern gelang es in den zurückliegenden Monaten, die fehlenden Belege rückständiger Besoldung ihres Vaters zusammenzutragen. Am 24. September [...]". Vogel fügt diese Passage an den zuvor beschriebenen Verwaltungsvorgang, weil er chronologisch in den Spätsommer 1728 fällt. Dass es keinen inneren Zusammenhang gibt, stört sie nicht, ebenso wenig der völlig unvorbereitete Perspektivenwechsel. Und das gilt für die gesamte Darstellung.
Vogel beschreibt die historischen Ereignisse einmal über die Person von Brühls Vater, dann über die von Brühls Brüdern, über verschiedene sächsische Minister und Gesandte, über den Kurfürsten und König und auch über Brühl selbst, aber leider nur selten aus dessen Sicht auf die Ereignisse. Hätte sie dieses öfter getan, wäre sie gezwungen gewesen, die Vorhaben und Handlungen Brühls und ebenso die von ihr in extenso beschriebene politische Lage Sachsens und Europas zu interpretieren, zumindest aber zu kommentieren. Doch dazu kann sie sich nicht durchringen. Alles in ihrem Buch bleibt deskriptiv. Nirgendwo gibt es eine auch nur vorläufige Zusammenfassung von Ergebnissen. Nie formuliert Vogel ein Fazit. Ihre wesentliche Beobachtung nennt sie schon vorsichtig im Vorwort: Man könne Brühl "durchaus als 'politisches Kind' Augusts II. bezeichnen". Dies jedoch ist keine neue Erkenntnis und reicht kaum für ein 700 Seiten dickes Buch.
Warum ist Vogels Werk dennoch wertvoll? Weil sich die Autorin die immense Mühe gemacht hat, die Unmenge der im Sächsischen Hauptstaatsarchiv verwahrten Akten zu Brühls Leben einzusehen, und weil sie aus diesen viele einzelne und wertvolle Nachrichten mitteilt. Ihre Zitate ziehen sich zum Teil über Seiten hin. Vogels Arbeit ist daher eher eine Quellensammlung. Sie kann somit sehr gut als Ausgangspunkt für neue Studien über den Premierminister dienen. Eine Biografie Brühls in Anschluss an das Buch Boroviczénys, wie Vogel es wollte, ist die Arbeit nicht. Vielleicht wird dies ja der - dann hoffentlich Heinrich von Brühl in den Mittelpunkt stellende - zweite Band ihres Werkes.
Anmerkung:
[1] Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 43 (1930), 175-177.
Jürgen Luh