Ralf Brachtendorf: Konflikte, Devianz, Kriminalität. Justiznutzung und Strafpraxis in Kurtrier im 18. Jahrhundert am Beispiel des Amts Cochem, Marburg: Tectum 2003, 285 S., ISBN 978-3-8288-8511-0, EUR 25,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Joachim Eibach: Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003
Karl Härter / Gebhard Sälter / Eva Wiebel (Hgg.): Repräsentation von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2010
C. Bettina Schmidt: Jugendkriminalität und Gesellschaftskrisen. Umbrüche, Denkmodelle und Lösungsstrategien im Frankreich der Dritten Republik (1900-1914), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005
Die Trierer Dissertation untersucht den sozialen und gerichtlichen Umgang mit Konflikten strafrechtlichen Charakters in einer dörflichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Sie fragt nach Funktionsweisen und -logiken der Konfliktregulierung. Brachtendorf bezieht sich dabei auf zentrale Konzepte der neueren Historischen Kriminalitätsforschung: Justiznutzung, soziale Kontrolle, vor- und außergerichtliche Konfliktregulierung, zweigleisige Strafpraxis. Die Quellenbasis der vorliegenden Arbeit bilden Amtsprotokollbücher des Amts Cochem und ergänzend dazu Strafakten, Unterlagen über Frevelverhöre sowie Sentenzbücher des Trierer Oberhofs. Das Amt versteht Brachtendorf gleichermaßen als Mediator wie als Scheidelinie zwischen kurtrierischer Obrigkeit und den Untertanen, zwischen dörflich-informellen und obrigkeitlich-formellen Rechtstraditionen. Es geht ihm also darum, wie die dörfliche Gesellschaft einen Konflikt und seinen sozialen Kontext einstufte, wie und wann sie obrigkeitliche Gerichte zur Lösung und / oder Sanktionierung "nutzte", wie wiederum das Amt mit diesen Streit- und Devianzfällen umging und wann es sich seinerseits entschied, die höheren Gerichte Kurtriers einzuschalten, beziehungsweise wann es dazu gezwungen war.
In einem ersten Teil werden die Rechtsgrundlagen und der Instanzenzug in Kurtrier bei Strafsachen dargestellt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Amtmann, hier meist ein Amtsverwalter mit Jurastudium, Promotion und dem bekannt breiten Aufgabengebiet. Im zweiten Teil führt Brachtendorf in systematischer Form die institutionellen Ebenen der Konfliktregulierung auf, die sich für die dörfliche Gesellschaft und das Amt boten: auf zivilrechtlicher Ebene der Vergleich (privat oder gemeindlich) und der Amtsentscheid, auf nächster, strafrechtlicher Ebene das Frevelverfahren und schließlich das Inquisitionsverfahren. Anschließend behandelt er die Palette der jeweils möglichen Strafen.
Im nun folgenden - zentralen - dritten Teil spielt Brachtendorf für die vier Deliktgruppen Verbaliniurien, Eigentumsdelikte, Körperverletzungen sowie Tötungsdelikte jeweils die drei bis vier Regulierungsmöglichkeiten Vergleich, Amtsverhör, Frevelverhör und Inquisition durch. Ihn interessieren hier die Nutzung dieser Justizebenen durch die Kläger und die betroffenen Sozialverbände und die Regulierungs- beziehungsweise Strafpraxis der obrigkeitlichen Institutionen. Seine Beobachtungen illustriert er anhand ausgewählter Einzelfälle. Er argumentiert nicht quantifizierend, sondern sehr nah am Text der Beispiele.
Während Verbaliniurien in den meisten Fällen mit einem Vergleich oder im Amtsverhör endeten, kam es bei Diebstählen und Körperverletzungen, die grundsätzlich anzeigepflichtig waren, häufiger zu Frevel- und Inquisitionsverfahren. Tötungsdelikte schließlich führten in aller Regel zur Inquisition. Auffällig ist aber, dass es auch in den drei letztgenannten Deliktgruppen immer wieder Hinweise auf vor-, außer- und parallelgerichtliche Vergleichsangebote und Vergleiche zwischen Angeklagten und Geschädigten gibt, die sich in aller Regel strafmildernd, wenn nicht sogar verfahrensbeendend auswirkten. Galten Beklagte als sozial eingebunden oder handelte es sich um Ersttäter, waren Gemeinden und Amt darum bemüht, die Fälle auf einer möglichst niedrigen Austragungsebene zu verhandeln und ordneten das Delikt entsprechend milder ein.
Mit der Anzeige vor dem Amt demonstrierte der Geschädigte die Absicht, seine Ansprüche gerichtlich durchzusetzen. Oft genügte dieses Signal, um doch noch einen Vergleich zu erzielen. Die Verfahren brechen dann in den Protokollbüchern einfach ab. Bei länger währenden Familienfehden scheint dagegen oft nicht eine einvernehmliche Regelung im Vordergrund gestanden zu haben, sondern der Wunsch, "amtlich sanktioniert als Sieger aus dem Streit hervorzugehen" (176). Verbaliniurien kommt dabei besondere Bedeutung zu. Gezielte Beleidigungen konnten ein wirksames Mittel sein, um einen latenten wirtschaftlich oder zivilrechtlich begründeten Konflikt öffentlich zur Sprache zu bringen. Der Gegner wurde "bei der Ehre" gepackt und zu einer Klage vor Gericht gezwungen. Als Entschuldigung für die Ehrverletzung konnte der Beklagte dann den primären Konflikt zur Sprache bringen. "Dies scheint eine beliebte Strategie gewesen zu sein, geringfügige Fälle vor das Amt zu bringen oder alten Streitigkeiten einen neuen Anstoß zu geben" (122).
Das Amt stand, so Brachtendorf, dem Vergleichssystem durchaus positiv gegenüber. Gerade bei der Lösung kleinerer Konflikte stellte der Vergleich ein effektives, attraktives und weit verbreitetes Mittel dar. In schwerwiegenderen Fällen führten ein rasches Geständnis und die Bereitschaft zur Wiedergutmachung zu einer geringeren obrigkeitlichen Strafe. Strafverschärfend wirkte es sich aus, wenn Amtsträger oder obrigkeitliches Eigentum geschädigt worden waren oder wenn sich der Beklagte gegenüber Amtspersonen "provokant" verhielt.
Wurde die Tat als Frevel eingestuft, standen Bestrafung und Disziplinierung der Täter im Vordergrund. Dem Beklagten boten sich nur noch begrenzte Optionen, Einfluss auf den Ablauf zu nehmen (Vergleichsangebot, Supplik). Das Amt konnte die Angelegenheit selbst entscheiden oder sie an den Oberhof weitergeben. Im letzteren Fall setzte es dadurch Signale, dass es bei der Schilderung der Ereignisse den sozialen Kontext einbezog oder bewusst ausblendete und damit den Beklagten fallen ließ. Das gilt vor allem auch für die Inquisitionsverfahren, in denen das Amt nur voruntersuchend tätig wurde.
Die Grenzen der Regulierungsmacht von Gemeinde (und manchmal auch Amt) sieht Brachtendorf vor allem in drei Konfliktsituationen erreicht. Im ersten Fall schwelten Konflikte zwischen zwei Einzelpersonen oder Familien über Jahre und führten zu fortwährenden wechselseitigen Provokationen. In diesen Fällen war oft niemand mehr aus dem sozialen Umfeld bereit zu vermitteln. Schwierig gestaltete sich die Situation zweitens, wenn ein einzelnes Gemeindemitglied wiederholt gegen die Gemeinde aufbegehrte und in eine permanente Verweigerungshaltung geriet. Mit jugendlicher Devianz schließlich hatte die dörfliche Gesellschaft immer wieder zu tun. Sie wurde vor allem dann aktiv, wenn die Heranwachsenden aus Sicht der Dorfgesellschaft "zu viel" taten und es an Affektkontrolle mangeln ließen. Oberstes Ziel war in all diesen drei Konflikttypen die Sicherung des sozialen Friedens und die Disziplinierung der Unruhestifter. Aus diesem Grund wurden diese drei Konfliktkonstellationen meistens gleich auf einer höheren Austragungsebene verhandelt.
Insgesamt zeichnet Brachtendorf ein außerordentlich positives Bild der obrigkeitlichen Strafpraxis. Er konstatiert auf der Ebene des Amts eine gute Zusammenarbeit zwischen den Rechtssphären der informellen-horizontalen und der formellen-vertikalen Sozialkontrolle und spricht von einem "effektiven Funktionieren der staatlichen Gerichtsbarkeit" (254). Das Handeln des Amts folgte so berechenbaren Maximen, dass die Untertanen, Kläger wie Beklagte, abschätzen konnten, mit welchen Strategien und auf welcher Austragungsebene sie ihr Ziel verhältnismäßig angehen konnten. Brachtendorf geht davon aus, dass die Konsequenzen für alle kalkulierbar waren (255), trotz einiger immer wieder auftretender Unberechenbarkeiten - insbesondere in den selteneren und oberhalb des Amts entschiedenen Inquisitionsverfahren.
Einschränkend sind einige Punkte anzumerken. Brachtendorf stützt seine Beobachtungen fast ausschließlich auf Beispiele aus dem späten 18. Jahrhundert. Es bleibt offen, ob die Ergebnisse auf das ganze Jahrhundert übertragbar sind. Die Frage nach dem Wandel von Justiznutzung und Strafpraxis bleibt ausgespart. Das ist auch deshalb zu bedauern, weil das vorangestellte Kapitel zu Rechtsgrundlagen und Instanzenzug zeitlich teilweise weit zurückgreift. Diese beiden etwas auseinander fallenden Teile wären vielleicht stärker zu verknüpfen gewesen, wenn der Instanzenzug von unten nach oben (Justiznutzung!) und nicht von oben nach unten dargestellt worden wäre. Insgesamt hätte Brachtendorf seine eigenen Akzente im Forschungsfeld deutlicher machen können; die Darstellung bleibt mitunter sehr nah an den Quellen orientiert. Etwas folkloristisch muten die permanent angeführten Rechtssprichwörter an. Die gewählte Quellenbasis ermöglicht nur selten, und das ist Brachtendorf nicht anzulasten, Blicke auf die sozialen Kontexte von Devianz und Kriminalität. Es steht zu vermuten, dass auch die Möglichkeit des Einzelnen, die Justiz zu 'nutzen', geprägt war von seiner sozialen Stellung. Leider nicht angesprochen werden geschlechtergeschichtliche Fragestellungen, die sich an einigen Punkten der Studie fast aufdrängen.
Die Stärken der klar gegliederten Arbeit liegen dort, wo Brachtendorf in anschaulicher Form die Gestaltungsspielräume von Klägern, aber auch Beklagten hervortreten lässt. Die Arbeit macht an vielen Stellen deutlich, welche Signale Kläger, Beklagte und Amt im Verlauf der Konfliktlösung oder -sanktionierung setzen konnten und welche Bedeutung der gewählten Austragungsebene dabei zukam.
Eva Wiebel