Conan Fischer: The Ruhr Crisis, 1923-1924, Oxford: Oxford University Press 2003, IX + 312 S., ISBN 978-0-19-820800-6, GBP 50,00
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1923/24 markiert das Ende der Nachkriegszeit und damit den Wendepunkt der internationalen Beziehungen in Europa: Deutschland musste mit der Kapitulation im "Ruhrkampf" endgültig einsehen, dass seine kaum kaschierte Obstruktion gegen den Versailler Vertrag aussichtslos war; Frankreich scheiterte mit seinem Pyrrhussieg an der Ruhr in dem Ziel, den durch den Versailler Vertrag nicht erfüllten Wunsch nach Sicherheit vor dem östlichen Nachbarn nachträglich einseitig und gewaltsam durch die Kontrolle über dessen zentrale Industrieproduktion zu erzwingen. Die angelsächsischen Staaten übten auf beide Kontrahenten Druck aus, die Reparationsfrage von einem vornehmlich politischen Instrument, als das sie Frankreich bis dahin gehandhabt hatte, zu einer primär wirtschaftlichen Angelegenheit umzugestalten, was sie mit der Londoner Konferenz und dem Dawes-Plan von 1924 dann auch erreicht wurde.
Diese Bewertungen sind wohl bekannt und beispielsweise im 1985 von Klaus Schwabe herausgegebenen Sammelband "Die Ruhrkrise 1923" im Detail nachzulesen. Zumindest die einschlägigen deutschen Akten sind längst veröffentlicht. Der Titel von Fischers Buch, das schon wegen seines hohen Preises kaum eine der neuerdings so beliebten "für den Studiengebrauch" konzipierten Einführungen oder Zusammenfassungen sein kann und soll, weckt also die Frage: Was wird Neues geboten? Die Einleitung macht dann schnell klar, welches Ziel Fischer in erster Linie verfolgt: Er will anhand bisher kaum berücksichtigter Quellen die unmittelbaren Erfahrungen der Bevölkerung und der betroffenen Industrie mit dem "Ruhrkampf" schildern. Dies gelingt ihm tatsächlich in beeindruckender Weise, auch wenn man wünschen könnte, dass er neben den ausführlich rezipierten deutschen regionalen und lokalen sowie aus Wirtschaftsarchiven geschöpften Archivalien auch diejenigen der französischen Besatzer zurate gezogen hätte.
Den Rahmen geben selbstverständlich die bilateralen und internationalen Bedingungen und Abläufe vor: zu Beginn die Entwicklung zum französisch-belgischen Einmarsch ins Ruhrgebiet im Januar 1923, gegen Ende der Abbruch des "passiven Widerstands", die weitgehende Unterwerfung der deutschen Verwaltung und Industrie unter die französischen Vorgaben im Herbst 1923 und schließlich der Ausklang der "Ruhrfrage", die mit dem Bericht des Dawes-Komitees im Frühjahr 1924 ihre Rolle als französisch-deutscher Zankapfel ausgespielt hatte. Doch innerhalb dieses Ereignisrahmens bietet Fischer tatsächlich Neues: Aus vielen Quellen wird herausgearbeitet, wie sehr der von der Reichsregierung geförderte und teilweise gelenkte passive Widerstand gegen die französisch-belgische Ruhrbesetzung und das Verbot weiterer Kohlelieferungen auch eine Herzensangelegenheit der Bevölkerung war. Die so plakativ klingende Bekundung der Gewerkschaften, nun im Kampf gegen den französischen "Imperialismus" zu stehen, traf tatsächlich im Kern das Bewusstsein der betroffenen Bevölkerung. Arbeiterkreise sahen ihren Widerstand nicht nur gegen einen fremden Besatzer gerichtet, sie wähnten sich auch im Kampf um die sozialen Errungenschaften von 1918/19, nicht zuletzt angesichts des Vergleichs ihrer Arbeitsbedingungen mit denen in der französischen Industrie. Nur so ist auch erklärbar, dass die von Fischer eindrucksvoll beschriebenen Belastungen über Monate hinweg ertragen wurden und die Franzosen und Belgier auf eine unerwartete Einheitsfront von Arbeitgebern - nach kurzem Zögern der Großindustrie zu Beginn der Besatzung - und Arbeitern, insbesondere im Bergbau, trafen.
Diese Belastungen waren enorm, denn schließlich fanden die Besatzer alles andere als eine verwöhnte Bevölkerung vor. Diese hatte bereits etliche Jahre der Entbehrung hinter sich und wurde nun erneut drangsaliert: Die Familien litten infolge der faktischen Abtrennung des Ruhrgebiets vom Rest des Reichs mehr und mehr Hunger; circa 300.000 Kinder mussten unter teilweise chaotischen Umständen zur besseren Versorgung in andere deutsche Regionen transportiert werden; zahllose Beamte und deren Familien wurden unter entwürdigenden Bedingungen und großenteils in Nacht-und-Nebel-Aktionen über die Besatzungsgrenze nach Osten ausgewiesen.
Fischer kommt mit guten Argumenten zu dem Schluss, dass der auf internationaler Ebene positive Ausgang des Ruhrkampfs, der schließlich in die außenpolitisch entspannteren mittleren Jahren der Weimarer Republik überführte, in der Wahrnehmung der Bevölkerung, insbesondere der Arbeiterschaft, eher die gegensätzliche Wirkung hatte: Sie musste wohl oder übel die Kapitulation des Deutschen Reiches gegenüber dem Eindringling mitvollziehen und sah auch angesichts der teilweise erfolgreichen Bemühungen der Großindustrie, unter dem Druck der internationalen Konkurrenz einige der Errungenschaften von 1918/19 zu kassieren, den Kampf um den Erhalt "ihrer" sozialen Demokratie und damit "ihrer" Republik als vergebens an. Dass damit ihr Engagement für den Weimarer Staat gebremst wurde, lässt sich als These gut nachvollziehen. Man kann sich nur wünschen, dass in einer allgemeinen Geschichte der Besatzungszeit nach dem Ersten Weltkrieg die tatsächlichen Belastungen für die betroffenen Gebiete und die Folgen für die Mentalität ihrer Bewohner ähnlich detailliert wie Fischer dies für den Ruhrkampf unternimmt dargelegt werden - zumal Probleme mit Besatzungen nach siegreichen Kriegen nicht nur ein historisches Phänomen sind.
Wolfgang Elz