Eva-Clarita Onken: Demokratisierung der Geschichte in Lettland. Staatsbürgerliches Bewusstsein und Geschichtspolitik im ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit, Hamburg: Reinhold Krämer Verlag 2003, 294 S., ISBN 978-3-89622-061-5, EUR 29,70
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Es genügt ein Blick in die deutsche Tagespresse, etwa anlässlich des Beitritts Lettlands zur Europäischen Union, um die gegenwartspolitische Relevanz der geschichtlichen Deutung des Zweiten Weltkriegs für Lettland zu erkennen. Eva-Clarita Onkens Berliner Dissertation, die von Peter Steinbach betreut wurde, behandelt mithin ein hoch aktuelles Thema. Zur Geschichtspolitik in den politischen Debatten Lettlands kommt die Autorin allerdings erst in der zweiten Hälfte ihres Buches. Zuvor befasst sie sich nach einem theoretischen Einstieg zu nationaler Identität ausführlich mit Nationsvorstellungen in Lettland und ihrer Rolle bei der Demokratisierung des Landes, wobei sie detailliert auf Sprach- und Minderheitenfragen als Gegenstand von 'Ethnopolitik' eingeht. Anschließend behandelt sie den Zusammenhang von Gedächtnis und Historiografie und gibt einen kurzen historischen Abriss der lettischen Geschichtswissenschaft. Als Schwerpunkte ihrer geschichtspolitischen Analyse benennt sie die Auseinandersetzung mit Nationalismus und Diktatur vor 1940, die Kollaboration im Zweiten Weltkrieg und die Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit.
Onken betrachtet die Rolle der Geschichtsdiskurse im Kontext dreier zeitlich paralleler Integrationsprozesse: des ethnisch-nationalen, des staatsbürgerlich-politischen und des europäischen. Als Quellenbasis dienen ihr wissenschaftliche Publikationen, politische Strategien und öffentliche Diskussionen im Zeitraum von 1988 bis 1999. Dieser interdisziplinäre Ansatz ist zweifellos reizvoll, birgt jedoch die Schwierigkeit, die Balance zwischen politikwissenschaftlicher Theoriebildung und geschichtswissenschaftlicher Quellenanalyse zu halten. So besteht zwischen den durchaus anregenden theoretischen Überlegungen, die die Studie durchziehen, und der Ausbreitung empirischer Befunde aus Sicht des Historikers doch ein Missverhältnis. Das mag auch dadurch bedingt sein, dass Onken die Ergebnisse einer eigenen, bereits früher publizierten materialreichen Studie zur Kontroverse um den Judenmord in Lettland [1] hier nicht mehr hat einfließen lassen.
Zielpunkt der Argumentation ist ein Plädoyer für eine multinationale und tolerante Staatsbürgernation, in die sich auch die nationalen Minderheiten mit ihren Geschichtsdeutungen integrieren können. Insgesamt sieht die Autorin Lettland auf dem Weg zu einer "postnationalen Phase der Gedächtnisgeschichte", die ein staatsbürgerliches Selbstverständnis der lettischen Nation ermöglicht. Allerdings konzentriert sie sich vor allem auf die Diskussionen in der lettischen Bevölkerungsmehrheit, sodass die Chancen eines solchen Konzepts bei der russischsprachigen Bevölkerung nicht deutlich werden. Das mag jedoch auch an der zeitlichen Begrenzung der Studie bis zum Jahr 1999 liegen. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass die Studie nicht ganz frei von Unschärfen in der Argumentation und im historischen Urteil ist, das stellenweise, etwa in der Einschätzung Garlieb Merkels, einem ethnizistischen Geschichtsparadigma verhaftet bleibt.
Insgesamt bleibt die gewiss produktive und anregende Verbindung politikwissenschaftlicher Theoriebildung und geschichtswissenschaftlicher Analyse zwar eher im Potentialis. Dennoch liegt hier ein Beitrag vor, der nicht nur ausführlich über die Positionen lettischer Politologen und Historiker informiert, sondern auch interessante Einblicke in die Geschichtsdebatten Lettlands ermöglicht und als ein Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit Geschichtspolitik in den postsozialistischen Gesellschaften dienen wird.
Anmerkung:
[1] Eva-Clarita Onken: Revisionismus schon vor der Geschichte. Aktuelle Kontroversen in Lettland um die Judenvernichtung und die lettische Kollaboration während der nationalsozialistischen Besatzung, Köln 1998.
Jörg Hackmann