Oliver Steinert: "Berlin - Polnischer Bahnhof!" Die Berliner Polen. Eine Untersuchung zum Verhältnis von nationaler Selbstbehauptung und sozialem Integrationsbedürfnis einer fremdsprachigen Minderheit in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918) (= Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit; Bd. 32), 2003, 349 S., 3 Abb., 30 Tab., 2 Ktn., ISBN 978-3-8300-0921-4, EUR 95,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Pallaske Christoph: Migrationen aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland in den 1980er und 1990er Jahren. Migrationsverläufe und Eingliederungsprozesse in sozialgeschichtlicher Perspektive, Münster: Waxmann 2002
Heinrich Schwendemann / Wolfgang Dietsche: Hitlers Schloß. Die 'Führerresidenz' in Posen, Berlin: Ch. Links Verlag 2003
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs lebten inoffiziellen Schätzungen zufolge bis zu 100.000 Polen im Großraum Berlin, in der Stadt selbst waren es laut der Volkszählung von 1910 knapp 40.000. Sie stellten dort die mit Abstand größte Gruppe unter den zwischen 1871 und 1918 in die Stadt gekommenen fremdsprachigen Zuwanderern. Die überwiegende Mehrheit der Polen stammte aus den preußischen Ostprovinzen, insbesondere aus Schlesien; polnischsprachige Saisonarbeiter aus Österreich und Russland kamen in weitaus geringerer Zahl und lebten während ihres mehrmonatigen Aufenthalts zumeist in der Illegalität.
Nach Ansicht des Verfassers der vorliegenden Dissertation hat sich die bisherige Forschung, gerade auch im Vergleich mit der Historiografie zu den Polen im Rhein-Ruhrgebiet, zu stark auf quantitative und deskriptive Aspekte im Vereinsleben der Berliner Polen beschränkt. Ausgehend von der These, dass sich die Mehrheit der polnischen Zuwanderer in die Berliner Gesellschaft integrierte und anders als im Rhein-Ruhrgebiet keine polnische Subkultur entstanden ist, analysiert er Voraussetzungen und Verlauf des Eingliederungsprozesses. Im Verlauf seiner Untersuchung, die auf der Auswertung von behördlichem Aktenmaterial, Zeitungen und einzelnen Erinnerungswerken polnischer Migranten beruht, wird rasch deutlich, dass sich die Eingangsthese vorbehaltlos bestätigen lässt.
Über einen präzise eingeführten Begriffsapparat arbeitet Oliver Steinert heraus, dass bei der Mehrheit der Berliner Polen der Anpassungsprozess drei Etappen - Akkommodation, Akkulturation und Assimilierung - durchlief. Die polnische Community beziehungsweise die Berliner Polonia - der Verfasser verwendet die beiden Begriffe synonym - bildete den nationalbewussten Kern der Zuwanderergruppe. Sie vermochte es nicht, die Masse der polnischen Zuwanderer von der deutschen Mehrheitsbevölkerung zu separieren und als Gegenkonzept zur Assimilierung eine dauerhafte polnische Subkultur nach dem Vorbild der Ruhrpolen zu kreieren. Die von der Polonia geforderte Pflege der Muttersprache scheiterte am Integrationsdruck, dem sich die zumeist in ungelernten und Handwerksberufen tätigen Polen ausgesetzt sahen. Anders als in den preußischen Ostprovinzen blieb in Berlin die enge Verbundenheit von Katholizismus und polnischem Nationalismus weitgehend ein ideelles Konstrukt. Ein separates gesellschaftliches Leben und die Etablierung eines eigenen Wirtschaftskreislaufs scheiterten an der fehlenden Attraktivität entsprechender Organisationen im Vergleich zu sozialdemokratischen und deutsch-katholischen Vereinen.
Erleichtert wurde die Assimilation durch das Siedlungsverhalten der polnischen Zuwanderer, die keine in sich geschlossenen Wohnviertel aufbauten, sondern sich vielmehr an der sozialen Siedlungsstruktur der einheimischen Bevölkerung orientierten. Die antipolnische Propaganda in der deutsch-nationalen Presse veranlasste zahlreiche Polen - insbesondere Arbeiter und Handwerker - dazu, ihre Herkunft zu verschleiern. Mit Abgrenzung und Radikalisierung reagierten lediglich die häufig zur Inteligencja zu zählenden nationalbewussten Vertreter der Community. Angesichts dessen erscheint es dann allerdings diskussionswürdig, alle im Verlauf des 19. Jahrhunderts nach Berlin zugewanderten Polen unter dem Begriff der "Kolonie" zusammenzufassen, wie in mehreren Kapitelüberschriften geschehen. Der Verfasser weist selbst darauf hin, dass sich der Begriff "Kolonie" im Vergleich zum Begriff "Community" "stärker über eine konkrete, topografische, soziale und räumliche Anordnung der Migranten in von ihnen besiedelten Wohnvierteln definiert" (43). Es stellt sich die Frage, ab welcher Aufenthaltsdauer und bei welchen sozialen Indikatoren es gerechtfertigt sein könnte, polnischstämmige Zuwanderer - und deren Nachkommen - nicht mehr ohne Weiteres der polnischen Kolonie zuzurechnen. Vielleicht hätte der Verfasser auf Grundlage seiner Quellen diese von den seit längerer Zeit in Berlin lebenden und bereits assimilierten polnischstämmigen Zuwanderern eindeutiger abgrenzen können.
Ein knapper Exkurs, der anhand mehrerer Schaubilder die Situation der polnischen Zuwanderer im Ruhrgebiet mit denen in Berlin vergleicht, fasst die Besonderheiten der untersuchten Migrantengruppe anschaulich zusammen. Im Anhang finden sich Tabellen mit statistischem Material zum Siedlungsverhalten und zur Berufsstruktur der Berliner Polen.
Christoph Schröder