Stephan Hoppe: Was ist Barock? Architektur und Städtebau Europas 1580-1770, Darmstadt: Primus Verlag 2003, 252 S., 300 s/w- und Farb-Abb., ISBN 978-3-89678-453-7, EUR 39,90
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Vom Barock zu handeln, ist ein schwieriges Unterfangen. Als Epochenbegriff ist "der Barock" ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts, und erst a posteriori hat man für ihn diverse Etymologien herbeizitiert. Die Wurzeln des Begriffs wähnt man bis heute in Bezeichnungen für eine unregelmäßige Perlenform oder verworfene Geländeformationen, für einen als spitzfindig geltenden syllogistischen Schlussmodus oder illegalen Wucherzins. Da keine dieser Wortgeschichten unumstritten ist, charakterisiert ein einschlägiges Handbuch den Forschungsstand pointiert als ein "Begriffsbabel", das drei verschiedene Strategien zur Begriffsbestimmung nach sich ziehe: "gar nicht darauf eingehen, die Verwirrung darstellen, aber nicht entscheiden, oder apodiktisch eine Etymologie als die richtige bzw. wenigstens die wahrscheinlichste ausgeben und sie übernehmen." [1] In seinem Buch "Was ist Barock?" folgt Stephan Hoppe der zweiten Strategie. Seine Darstellung von Architektur und Städtebau in Europa zwischen 1580 und 1770 vermeidet wohlweislich die Simplifizierung einer Problemgeschichte, die in statischen Definitionen nicht zu fassen ist.
Hoppe schickt dem dritten Band in der von Günther Binding initiierten architekturhistorischen Reihe "Baustile in Europa" die Absichtserklärung voraus, "keine homogene und 'objektive' Geschichte der Barockarchitektur als Akkumulation gesicherten Wissens" vorlegen zu wollen. Vielmehr ist es ihm um die "Formulierung von grundlegenden Prinzipien der Architektur" (7) zu tun. Tatsächlich gelingt ihm dies, ohne eine genetisch oder teleologisch zugerichtete Stilgeschichte zu konstruieren, die als gemeinsamen Nenner regionaler Schulen oder zeitlicher Perioden formale Invarianten zu bestimmen sucht. Unter Berücksichtigung sozialer, politischer oder ideologischer Rahmenbedingungen rekonstruiert der Verfasser das Phänomen Barock als ein dynamisches Kräftefeld, das gleich einem Kaleidoskop architektonische Grundtypen in vielfältiger Weise kombinierte und rekombinierte. Dabei legt Hoppe Wert darauf, seine Beobachtungen architektonischer Strukturen, aber auch die Kategorien ihrer Analyse gleichsam intrinsisch aus den sich in mannigfaltigen Medien niederschlagenden zeitgenössischen Diskussionen über Architektur heraus zu begründen, was umso mehr mit Blick auf eine noch in der Ära der Postmoderne blühende, retrospektive Umformung des Barock zu begrüßen ist.
Wie gewinnbringend Hoppes Analyse ist, zeigt ex negativo ein eingesprengtes Kapitel über "Periodisierungen der Barockarchitektur", dem man anmerkt, dass es sich der Verfasser wohl als Tribut an einen weiten Leserkreis und an eine fatalerweise immer nachdrücklicher geforderte Formatierung von Wissen abgerungen hat, die Schubladisierbarkeit und Modularisierbarkeit verlangt und in letzter Konsequenz der Verflachung und damit Abschaffung einer kritischen Kunstwissenschaft Vorschub leistet. Die angebotene entwicklungsgeschichtliche Einschnürung des Barock in die Stilstufen Früh-, Hoch- und Spätbarock sowie Rokoko zwingt die bereits als eine dynamische begriffene Epoche in ein zu starres Korsett. Bezeichnenderweise wehrt sich Hoppe letztendlich gegen diese Verkürzung, indem er unmissverständlich unterstreicht, "dass es eine universale Periodisierung der barocken Architektur nicht gibt und [...] auch nicht geben kann." (21)
Wie ein roter Faden durchzieht das Anliegen des Verfassers, gegen das Klischee des Barock als einer Epoche überbordender Sinnlichkeit und Sensualität, mithin des oftmals kolportierten "Schwulstes" anzuschreiben, die Argumentation des ganzen Buches. In Absetzung von diesem Zerrbild legt Hoppe als Rückgrat der architektonischen Kunst des behandelten Zeitraums rational begründete Regelsysteme frei. So strukturierte die frühneuzeitliche Leitwissenschaft Mathematik nicht nur ein urbanistisches Gestaltdenken, das sich in Planstädten manifestierte, welche die gesellschaftliche Tektonik in einer räumlichen zu fixieren trachteten. Auch die von Hoppe durchmessenen Stadtplätze, Gartenanlagen, Achsen und Alleen zeugen von einer "stetige[n] Ausdehnung der mathematischen Ordnungsoperationen" (108). In dem für die Argumentation seines Buches zentralen Kapitel interpretiert Hoppe "Typologie als Methode". An Beispielen wie den Säulenordnungen, den Formationen von Axial- und Zentralbau oder den Schalenfiguren barocker Einwölbungen und ihren jeweiligen typologisch kodifizierten Variationen weist er auf, dass der Barock zum einen charakteristische, sich über geografische und zeitliche Räume hinweg durchhaltende Merkmale ausbildete; zum anderen aber eben jene Typologien auch immer wieder spielerisch aus ihren Angeln hob zu Gunsten regelwidriger Varianten und neuartiger Synthesen im Detail. Wenn Hoppe an einer Stelle seines Buches die typologische Kombinatorik als "Wesenszug" (65) der barocken Architektur benennt, so bestimmt er damit eine Ästhetik, die sich im Kern durch ihre Komplexität auszeichnet und nicht davor zurückscheut, das Heterogene und selbst noch Widersprüchliche in ihr System einzubinden. Auf der Basis einer theoretisch durchgeformten Rationalität forderte und förderte sie im Experiment bewusste Regelverstöße, wobei Regel und Regelverletzung, Tradition und Innovation stets Hand in Hand gingen.
Um die Gestaltungsprinzipien des Barock zu veranschaulichen, gibt das Buch mehrfach verschiedene Sichtweisen ein und desselben Bauwerkes. Die Jesuitenkirche Il Gesù etwa wird in einem Kapitel aus sozialhistorischem und funktionsanalytischem Blickwinkel gedeutet. Hier erweist sich die Baugestalt als abhängig von unterschiedlichen Auftraggeber- und Stifterinteressen, die den Bau auch ästhetisch zu einem Ausgleichserzeugnis werden ließen. Ein anderer Abschnitt stellt unter entwurfstheoretischen Gesichtspunkten den in einer Kuppel aufgipfelnden Longitudinalbau als einen Idealtypus heraus. Und in einem mit "Bildergebäude: Architektur und Bildmedien" überschriebenen Teil ersteht der römische Bau als Gehäuse eines elaborierten, nach Maßgabe rhetorischer Unterweisung angelegten Bildprogramms erneut vor den Augen des Lesers. Das letztgenannte Kapitel demonstriert abermals den Facettenreichtum barocker Ästhetik, indem es den Fokus auf die programmatische Verschmelzung der Architektur mit anderen Bildmedien weitet. Wie im Fall der illusionistischen Deckenmalerei sotto in sù eines Andrea Pozzo steigern diese Bildmedien als integraler Bestandteil der Architektur noch einmal den barocken 'Wesenszug' der variatio.
Abschließend widmet sich der Verfasser einer kategorial anderen Herangehensweise an die Architektur des Barock, einer Herangehensweise in buchstäblichem Sinne, die das Buch sich seinem Untersuchungsgegenstand kongenial anverwandeln lässt. Schon Heinrich Wölfflin hob die Polyfokalität des barocken Bauwerkes hervor, welche die architektonische Grundform in möglichst vielen und verschiedenen Bildern erscheinen lässt und mit einem Wechsel der Betrachterstandpunkte rechnet. Es sind wahrscheinlich die frühneuzeitlichen sacri monti, die mit ihren Kapellenbauten entlang eines Stationenweges und einer Art von expandierten Bilderfriesen eindrücklicher als alle anderen Beispiele eine Vorstellung davon geben, dass ein Betrachter seine Umwelt stets mit "Augen-im-Kopf-auf-einem-Körper-unterstützt-durch-den-Boden" [2] wahrnimmt.
Eine aktive, "schöpferische Auseinandersetzung" [3] mit der Umgebung kennzeichnet auch für Hoppe die Tätigkeit des Rezipienten barocker Baukunst. Als eine dynamische Architektur, die eine prozessuale Raumwahrnehmung in der Zeit erfordert, reiht sie "Orte des Transistorischen" (227) aneinander. Wie groß die Nähe einer solchermaßen verstandenen Architektur zu interaktiven Computersimulationen ist, die Hoppe an einer Stelle andeutet, sei dahingestellt. Wichtiger erscheint die Leistung des Verfassers, aus dem Leser einen sich bewegenden Betrachter werden zu lassen. Mit dem Postulat nämlich einer dynamischen Lesart der barocken Architektur geht eine Dynamisierung derjenigen des Buches selbst einher. Mustergültig ist die Weise, in der Hoppe seinen Leser an die Hand nimmt und durch die Fürstbischöfliche Residenz zu Würzburg führt. Mit dem Gleichmaß eines flanierenden Betrachters folgen hier nach Abbildungen der Gesamtheit des Baukomplexes, seines Grundrisses und eines Gebäudeschnittes dicht aufeinander subjektive Ansichten des Treppenhauses und seines Deckenfreskos von verschiedenen Standpunkten aus und evozieren ein kinästhetisches Erleben von Architektur. Damit vollzieht der Verfasser in einem anderen Medium des Transistorischen, dem Buch, die Polyfokalität des Barock gewissermaßen in actu. Folgerichtig überschreibt er das kurze zusammenfassende Kapitel am Schluss seines Buches nicht mit "Das ist Barock". Um im Gegenteil jegliche Andeutung von definitorischer Stillstellung zu umgehen, bleibt es bei der Frage, mit der schon der Buchtitel anhebt. So gibt Stephan Hoppe ein reich ausgestaltetes "Vademekum" (7) in die Hand, das für eine zukünftige Barockforschung wegweisend ist.
Anmerkungen:
[1] Walter Moser: Barock, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart / Weimar 2000, 578-618, hier: 585 und 578.
[2] James Jerome Gibson: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung, München / Wien / Baltimore 1982, 221. Siehe jüngst auch Thomas Hensel: Mobile Augen. Pfade zu einer Geschichte des sich bewegenden Betrachters, in: Bodo von Dewitz/ Werner Nekes (Hg.): Ich sehe was, was Du nicht siehst! Sehmaschinen und Bilderwelten. Die Sammlung Werner Nekes, Göttingen 2002, 54-63 und 420 f.
[3] August Schmarsow: Über den Werth der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde, Leipzig 1896.
Thomas Hensel