Rezension über:

Roy Porter (ed.): Eighteenth-Century Science (= The Cambridge History of Science; Vol. 4), Cambridge: Cambridge University Press 2003, XXX + 912 S., ISBN 978-0-521-57243-9, GBP 65,00
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Rezension von:
Thorsten Halling
Institut für Geschichte der Medizin, Heinrich Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Martina Heßler
Empfohlene Zitierweise:
Thorsten Halling: Rezension von: Roy Porter (ed.): Eighteenth-Century Science, Cambridge: Cambridge University Press 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 6 [15.06.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/06/3727.html


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Roy Porter (ed.): Eighteenth-Century Science

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"What was Enlightenment science?" Mit dieser an den berühmten Aufsatz Kants "Was ist Aufklärung?" angelehnten Frage eröffnet Roy Porter seinen einleitenden Aufsatz des vierten Bandes der Cambridge History of Science. Er kontrastiert zugleich die geistesgeschichtliche und gesellschaftspolitische Bedeutung dieser Epoche mit der wissenschaftshistorischen Einschätzung. Porter reflektiert die bisherige Forschung, allerdings ausschließlich die englischsprachige, ganz maßgeblich unter dem Aspekt der Abgrenzung zur so genannten "Scientific Revolution" des 17. Jahrhundert. Vor allem ältere Studien, die Porter zitiert, bedachten die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts unter anderem mit wenig schmeichelhaften Verdikten wie "singulary black period in the history of scientific thought" (2). Durchgesetzt hat sich aber vielmehr die These einer Phase der Konsolidierung und Vervollständigung der grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse der "Scientific Revolution" und ihrer zunehmenden Verbreitung und Akzeptanz. Porter warnt allerdings eindringlich vor dem Eindruck, dass um das Jahr 1700 bereits alle großen wissenschaftlichen Durchbrüche stattgefunden hätten, und weist darauf hin, dass zu diesem Zeitpunkt nicht einmal Newtons "Optik" erschienen war: "God may have said, 'Let Newton be, and all was light', but the light Newton had shed by 1700 was more like the first rays of dawn than the dazzle of the noonday sun" (3). Diese Abgrenzung zur "Scientific Revolution" ist zugleich Leitmotiv einer Vielzahl der folgenden Beiträge.

Der in fünf Hauptkapitel gegliederte Band zeichnet sich, dem von Porter formulierten Anspruch folgend, durch eine selbst für ein Handbuch solchen Ausmaßes beeindruckende Vielzahl von Perspektiven aus. Klassische Institutionen- und Disziplinengeschichte(n), aber auch Gender Studies, ökonomische, theologische, philosophische Einflussfaktoren und Aspekte der Repräsentation von Naturvorstellungen und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse sowie deren damit verbundener Popularisierung werden in insgesamt 36 Einzelbeiträgen von unterschiedlicher Qualität untersucht. Hervorzuheben sind die Studien zu außereuropäischen (non-western) Wissenschaftskulturen (Islam, Indien, China, Japan, Lateinamerika), die nicht nur den Blick auf andere, teilweise viel ältere Traditionen richten, sondern auch die weit reichenden Folgen des europäischen Kolonialismus reflektieren. Das methodische Instrumentarium reicht unter anderem von begriffsgeschichtlichen, diskursanalytischen, ikonografischen und vergleichenden Ansätzen bis zur Rekonstruktion der Scientific Community, weniger im Sinne von Ludwik Flecks Denkkollektiven, sondern vielmehr als sozialhistorische Prosopografie. Dieser bunte Strauß thematischer und methodischer Zugänge zur Geschichte der Naturwissenschaften, um es in der blumigen Sprache des Herausgebers zu formulieren, beinhaltet zwangsläufig gewisse Überschneidungen und wird nur bedingt nachvollziehbar gegliedert. Es sind vor allem das erste Kapitel zum Verhältnis von "Science and Society" und der etwas nachgeschoben wirkende fünfte Teil zu den "Ramifications and Impacts", deren Teilbeiträge einerseits teilweise stark ineinander greifen und andererseits in ihrer Bedeutung zu wenig gewichtet erscheinen.

Inhaltlich eng beieinander sind beispielsweise die Beiträge von Peter Hanns Reill und John Gascoigne zur Bedeutung der geistig-politischen Aufklärung für die Entwicklung der Naturwissenschaften. Reill untersucht das Vermächtnis der Scientific Revolution auch im Hinblick auf die Wirkungsmacht der mechanischen Naturphilosophie Newtons. Er greift dabei die These von Thomas S. Kuhn auf, nach der das "scientific paradigma" allgemein anerkannt und damit zur "normal science" transformiert wurde. Er betont dabei - viel stärker als Gascoigne - die Konkurrenz traditioneller Deutungsmuster wie Alchemie, Animismus oder auch Varianten paracelsischen Denkens bis hin zur offenen Kritik an Newtons Vorstellung von Vernunft seit Mitte des 18. Jahrhunderts, wie sie etwa Immanuel Kant und David Hume formulierten. Den "Vitalismus" der Spätaufklärung deutet Reill als Gegenreaktion auf diesen Skeptizismus. Der Mensch könne sich, so die Idee, als Teil der belebten Natur durch den Prozess des mitfühlenden Verstehens ein lebendiges Wissen von den Vorgängen in der Natur aneignen.

Institutionell veränderte sich die Wissensproduktion und Wissensvermittlung im 18. Jahrhundert allerdings sehr viel langsamer, als es die philosophischen Auseinandersetzungen vermuten lassen, wie Laurence Brockliss und James McClellan III sehr ausführlich, aber auch durchaus widersprüchlich zeigen. Während sich die Universitäten - auch auf Druck der Kirchen - nur sehr langsam den neuen Vorstellungen von Natur öffneten und die Struktur der akademischen Lehre erst im Zuge der Französischen Revolution - für Preußen mit dem Namen Wilhelm von Humboldt verbunden - radikal reformiert wurde, kann das 18. Jahrhundert als das Zeitalter der Akademien bezeichnet werden. Nationale Akademien der Wissenschaften und wissenschaftliche Gesellschaften förderten wissenschaftliche Forschung direkt durch Preisausschreiben und initiierten maßgeblich den wissenschaftlichen Austausch, insbesondere durch ihre Publikationen und trugen somit zur Ausbildung einer "scientific community" bei. Einen methodisch ambitionierten und reflektierten Versuch einer Prosopografie der Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert unternimmt William Clark. Er greift dabei auf Studien zu Studenten, Jesuiten und Frauen zurück und vergleicht die unterschiedlichen Verhältnisse in Frankreich, England und den "Austro-German-Lands".

Zur Klassifizierung der Disziplinen trugen im Zeitalter der Aufklärung insbesondere die großen Enzyklopädien bei. Weitgehend aufgegeben wurden die bis dahin gültigen Hauptkategorien der Naturgeschichte und der Naturphilosophie. In der Mathematik erreichte die Analysis eine besondere Exzellenz. Craig Fraser folgt hier der These Kuhns von einer "normal science", die den Charakter einer vervollständigten und etablierten Wissenschaft dokumentieren soll. Die Astronomie erhielt vor allem durch die Errichtung zahlreicher Observatorien in ganz Europa wichtige neue Impulse. Von Newton besonders beeinflusst blieben die Mechanik und die experimentelle Physik ebenso wie die Physiologie. Die Physiologie und die Pathologie bilden, so Thomas H. Broman, als "medical sciences" auch die Verbindung zwischen praktischem medizinischen Wissen und der Naturphilosophie.

Einen entscheidenden Faktor der ungeheuren Wirkungsmacht der "neuen" Wissenschaften bilden die Darstellung und Vermittlung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Die idealisierte, oft religiös konnotierte Darstellung der "Schöpfung" wurde von naturalistischen Illustrationen abgelöst. Neue Techniken wie die Mikroskopie verfeinerten den Blick in die Geheimnisse der Natur. Die Verbreitung wurde ermöglicht durch eine neue bürgerliche Öffentlichkeit und einen stark expandierenden Buch- und Zeitschriftenmarkt, der wiederum auf die publikumswirksamen Entdeckungen und Erkenntnisse angewiesen war. Adrian Johns konzentriert sich in seinem Beitrag vor allem auf die englischen Entwicklungen. Die umfangreichen deutschen und französischen Forschungen werden nur selten wahrgenommen, dies ist allerdings ein Defizit vieler Beiträge.

Außerordentlich anregend sind die Blicke über den eurozentrischen Tellerrand der Wissenschaftsgeschichte. Im Fokus stehen hierbei einerseits die eigenständigen Traditionen, andererseits die Impulse aus Europa, insbesondere durch die Jesuiten. Auf den inneren Konflikt zwischen aufgeklärter Wissenspopularisierung und dem 'clash of cultures' unter den Bedingungen eines aggressiven Kolonialismus mit primär wirtschaftlichen Interessen weist Larry Stewart hin. Der Fortbestand indigener Wissenschaftstraditionen korrespondiert somit unmittelbar mit dem Grad der Kolonialisierung. Im Gegensatz etwa zur mittelalterlichen Medizin verloren die islamischen Wissenskulturen des 18. Jahrhunderts vor allem aufgrund der engen wirtschaftlichen Beziehungen zu Europa an Eigenständigkeit, wobei sich der westlich orientierte tief greifende Wandel in Forschung und Lehre erst im 19. Jahrhundert vollzog. In den spanischen Kolonien bestimmte die Krone die institutionelle Ausgestaltung, während sich eine "kreolische" Naturphilosophie durchaus behaupten konnte, deren Vertreter zugleich an der Spitze der Unabhängigkeitsbewegung wieder zu finden waren. Ein Beispiel für eine noch weitergehende Unabhängigkeit von westlichen Wissenschaftstraditionen konstatiert Frank Dikötter besonders für die Entwicklung der Astronomie und Medizin in China, ohne dabei die umfangeichen Kontakte mit den jesuitischen Missionaren zu vernachlässigen. Für Demografen besonders interessant ist der Hinweis auf Hong Liangji, der fünf Jahre vor Malthus eine Theorie zur Überbevölkerung veröffentlichte.

Die Naturwissenschaft des 18. Jahrhunderts oder vielmehr in der Zeit zwischen den zwei großen Umbruchphasen des "langen" 17. und des späten 19. Jahrhunderts steckt trotz aller Bemühungen historiografisch fest in einem Rechtfertigungsdiskurs, der vor allem dem immer noch alles überstrahlenden Glanz Newtons geschuldet ist. Der Band vermag es aber, die spezifischen Entwicklungen der Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert und ihre Repräsentationsformen hervorragend herauszuarbeiten. Einige sich aufeinander beziehende und teilweise sich widersprechende Aussagen dokumentieren einerseits den lebendigen Diskurs, dürften aber andererseits gerade den Nicht-Spezialisten, immerhin eine der erklärten Zielgruppen, die Orientierung erschweren. Dass diesem Handbuch, das durch einen ausführlichen Index den schnellen Zugriff auf Personen und ausgewählte Sachverhalte ermöglicht, schon bald das Attribut eines Standardwerks zuerkannt werden wird, steht außer Zweifel.

Thorsten Halling