Ulrich Wyrwa (Hg.): Judentum und Historismus. Zur Entstehung der jüdischen Geschichtswissenschaft in Europa, Frankfurt/M.: Campus 2003, 256 S., ISBN 978-3-593-37283-9, EUR 34,90
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Während das jüdische Geschichtsdenken spätestens seit Yosef Hayim Yerushalmis 1982 erschienenem "Zakhor" [1] zu einem der zentralen Themen Jüdischer Studien geworden ist, findet die jüdische Geschichtswissenschaft erst seit einigen Jahren intensivere Beachtung. Dabei werden traditionell eher geschichtsphilosophische Betrachtungsweisen des Themenkomplexes "Judentum und Geschichte" zunehmend durch historiografiegeschichtliche Fragestellungen ergänzt. Eines der jüngsten Ergebnisse dieser Entwicklung ist der von dem Berliner Historiker Ulrich Wyrwa herausgegebene Sammelband, der sich den Anfängen jüdischer Geschichtswissenschaft(en) im Europa des 19. Jahrhunderts widmet. Das Anliegen des Bandes sei, so der Herausgeber in seinem einführenden Aufsatz, "Die europäischen Seiten der jüdischen Geschichtsschreibung" aufzuzeigen. Dies sei in zweierlei Hinsicht zu verstehen: Sowohl die neuzeitlichen jüdischen als auch die nichtjüdischen Historiografien Europas seien aus dem mit der Aufklärung einsetzenden Säkularisierungsprozess hervorgegangen. In beiden Fällen sei dabei die zentrale identitätsstiftende Funktion von der Religion auf die Geschichte übergegangen. Während jedoch die nichtjüdischen Historiografien im 19. Jahrhundert mit dem Paradigma des Historismus ausschließlich auf das Leitbild der Nation (beziehungsweise des Nationalstaates) verpflichtet wurden, sei jüdischer Geschichtsschreibung von Beginn an eine transnationale, europäische, gar universalgeschichtliche Perspektive inhärent gewesen, sie sei eine Art "histoire croisée" avant la lettre gewesen. Es gehe daher einerseits darum, jüdische Geschichtswissenschaft in ihrem europäischen (nichtjüdischen) Entstehungszusammenhang zu betrachten; andererseits darum, "die weltgeschichtlichen und europäischen Dimensionen" (35) der ihr zugrunde liegenden Paradigmata herauszuarbeiten.
Der erste Teil des Bandes ist den jüdischen Geschichtsschreibungen einzelner Länder wie Deutschland (Jacques Ehrenfreund), Frankreich (Perrine Simon-Nahum), Italien (Gadi Luzzato-Voghera) und England (Mitchell B. Hart) gewidmet. Die Länder Ost- und Ostmitteleuropas sind leider nur mit einem Beitrag über Polen (François Guesnet) vertreten. Ob dieses Ungleichgewicht der notorischen Westfixierung der (west-)europäischen Historikerzunft geschuldet ist, oder aber dem Umstand, dass man keine entsprechenden Autoren gefunden hat, vermag die Rezensentin nicht zu beurteilen. Es ist in jedem Fall bedauerlich, dass die europäische Perspektive des Bandes dadurch entscheidend eingeschränkt wird; denn bekanntlich lebte im 19. Jahrhundert der weitaus größte Teil der Juden Europas in seinen östlichen Regionen. Gern hätte man mehr über die von Wyrwa in der Einleitung immerhin erwähnte Bukarester Gesellschaft zur Erforschung der jüdischen Geschichte Rumäniens (gegründet 1866) erfahren. Aufschlussreich wäre es auch gewesen, etwas über die Zusammenhänge zu lesen, in denen der ebenfalls in der Einführung gewürdigte Simon Dubnow sein Modell einer jüdischen Geschichtsschreibung im vorrevolutionären Russland entfaltete.
Der zweite Teil des Bandes widmet sich mit vier Beiträgen Einzelproblemen wie dem Zusammenhang von jüdischer Verbürgerlichung und Geschichtsschreibung (Christhard Hoffmann), dem Verhältnis von Theologie und Geschichte (Andreas Gotzmann), dem jüdischen historischen Roman (Gabriele von Glasenapp) sowie dem Stellenwert des historischen Denkens im jüdischen familiären Erinnern (Miriam Gebhard). Sie werden ausschließlich am deutsch-jüdischen Beispiel erörtert. Der Blick wird damit wiederum von der Geschichtswissenschaft im engeren Sinn auf verschiedene Bereiche des Geschichtsdenkens sowie der unmittelbaren Geschichtserfahrung gelenkt (auch die Beiträge des ersten Teils widmen sich nicht durchgängig den jüdischen Historiografien der einzelnen Länder, sondern befassen sich über weite Strecken eher mit den jeweiligen Varianten einer "Wissenschaft des Judentums" im Allgemeinen). Daran wird einerseits deutlich, dass die hier angesprochenen Teilaspekte einer Geschichtskultur analytisch nicht immer eindeutig voneinander zu trennen sind. Andererseits verweist es darauf, dass Historiografiegeschichte für die Jüdischen Studien noch weithin Neuland ist und entsprechende theoretische sowie methodologische Debatten aus dem Bereich der allgemeinen Historiografiegeschichte hier erst in Umrissen nachvollzogen worden sind.
Die Herangehensweise der Autoren an ihr jeweiliges Thema ist naturgemäß unterschiedlich, sie reicht von faktengesättigten Deskriptionen bis zu methodenorientierten Vorschlägen zu einer systematischen Erschließung des Faktenmaterials. Letzteres bietet vor allem der Beitrag von Christhard Hoffmann, der am deutsch-jüdischen Beispiel die "Verbürgerlichung der jüdischen Vergangenheit: Formen, Inhalte, Kritik" untersucht. Hoffmann plädiert dafür, die jüdische Geschichtsschreibung nicht allein geistes- respektive wissenschaftsgeschichtlich zu erforschen, sondern sie darüber hinaus in ihrer sozialgeschichtlichen Dimension, in ihrem "besonderen sozialen Kontext" (149) zu erfassen. Er schlägt zu diesem Zweck ein konkretes analytisches Raster vor, das nicht primär von den Inhalten der vermittelten Geschichtsbilder ausgeht, sondern vor allem den sozialen Ort der jüdischen Historiografie zu ermitteln sucht - wer waren ihre Trägerschichten? Was waren ihre Organisations- und Repräsentationsformen? Dieses Raster ließe sich auch auf andere Beispiele als das deutsch-jüdische übertragen und böte darüber hinaus eine geeignete Grundlage einer vergleichenden Erforschung jüdischer Geschichtsschreibungen.
In der Summe seiner Beiträge bietet "Judentum und Historismus" eine anregende und empfehlenswerte Lektüre für jeden, der sich für die darin angesprochenen Fragen interessiert. Gleichwohl demonstriert der Band ein weiteres Mal, wie schwierig es offenbar ist, das Versprechen einer komparativen, gar transnational-europäischen Sichtweise forschungspraktisch umzusetzen. Dies äußert sich zum einen in der bereits eingangs kritisierten Einengung des Blicks auf Westeuropa. Zum anderen bleiben die Autoren durchweg dem überkommenen national(staatlichen) Paradigma verhaftet. Keiner wagt den vergleichenden Blick über den nationalen Tellerrand, und die vom Herausgeber Ulrich Wyrwa in seiner Einführung betonte europäische Perspektive des Gegenstandes sucht man in den Bearbeitungen durch die einzelnen Autoren vergeblich. Es hätte nahe gelegen, hier konsequenter an die jüngsten geschichtswissenschaftlichen Debatten über eine integrierte europäische Geschichte anzuknüpfen. [2]
Anmerkungen:
[1] Yosef Hayim Yerushalmi: Zakhor. Jewish History and Jewish Memory, Seattle, London 1982 (deutsch: Berlin 1988).
[2] Vgl. etwa Gerald Stourzh (Hg.): Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, Wien 2002, darin unter anderem ein Beitrag von Dan Diner: Geschichte der Juden - Paradigma einer europäischen Historie, 85-103.
Heidemarie Petersen