Rezension über:

Joachim Wintzer / Josef Boyer (Bearb.): Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestages 1957-1961 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Vierte Reihe: Deutschland seit 1945; Bd. 13), Düsseldorf: Droste 2003, 2 Bde., CLII + 1429 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-7700-5251-6, EUR 160,00
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Rezension von:
Daniel Kosthorst
Stiftung Haus der Geschichte, Zeitgeschichtliches Forum, Leipzig
Empfohlene Zitierweise:
Daniel Kosthorst: Rezension von: Joachim Wintzer / Josef Boyer (Bearb.): Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestages 1957-1961, Düsseldorf: Droste 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 6 [15.06.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/06/5074.html


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Joachim Wintzer / Josef Boyer (Bearb.): Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestages 1957-1961

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"Herr Vorsitzender! Ich habe den Eindruck, dass wir in diesem Gremium noch nie so nahe beieinander gewesen sind wie heute." Fast euphorisch kommentierte der SPD-Abgeordnete und stellvertretende Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, Carlo Schmid, am 8. Oktober 1958 die Sitzungsatmosphäre im Ausschuss. Sein Urteil markierte den Höhepunkt der Bemühungen um einen parteiübergreifenden Konsens für eine deutschlandpolitische Initiative der Bundesrepublik gegenüber der Sowjetunion, die aus der gemeinsamen Parlamentsentschließung vom 2. Juli 1958 hervorgegangen war. Die Hochstimmung währte allerdings nur kurze Zeit: Als Bundesaußenminister Heinrich von Brentano am 28. Oktober 1958 im Ausschuss den Text der Vorschläge vortrug, welche die Bundesregierung den Sowjets zu notifizieren beabsichtigte, kam es zum Eklat. Den Oppositionsparteien gingen die Formulierungen nicht weit genug, der Außenminister seinerseits weigerte sich, das parlamentarische Gremium als "Redaktionskomitee" für den von der Exekutive zu verantwortenden Notenwechsel zu akzeptieren.

Gleichwohl zeugt die Episode von der bemerkenswerten Konstruktivität der Ausschussberatungen zu einer Zeit, als die Wogen in der öffentlichen Auseinandersetzung um die Außen- und Sicherheitspolitik der jungen Bundesrepublik Deutschland sehr hoch gingen. Die im Auftrag der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien von Karl Dietrich Bracher, Klaus Hildebrand, Rudolf Morsey und Hans-Peter Schwarz herausgegebene Edition der Wortprotokolle aus der 3. Legislaturperiode (1957-1961) gibt einen eindrucksvollen Einblick in die Arbeit dieses renommierten Bundestagsausschusses. In zwei Teilbänden sind die Transkriptionen der stenografischen Mitschriften mit geringfügigen Kürzungen abgedruckt. Erstmals ist der vollständige Text als PDF-Datei auf einer CD-Rom beigegeben. Die datentechnische Aufbereitung ist so benutzerfreundlich, dass sich bei Spezialfragen durchaus die Bildschirmlektüre vorrangig empfehlen kann. Die Bearbeiter Joachim Wintzer, Josef Boyer und Wolfgang Dierker haben die Protokolle kenntnisreich, jedoch mit angemessener Zurückhaltung kommentiert und mit wichtigen Hinweisen zu den Ausgangstexten, den Sitzungsteilnehmern und Tagesordnungspunkten versehen. Vor allem aber sind den Dokumenten einige einleitende Kapitel von Joachim Wintzer vorangestellt, die wesentliche Zusammenhänge herstellen und daher unbedingt lesenswert sind. Gerade dem Thema der so genannten gemeinsamen Außenpolitik ist hier ein eigener Abschnitt gewidmet, der an den bereits in der vorausgegangenen Edition der Ausschussprotokolle der 2. Legislaturperiode (1953-1957) aufgenommenen Faden anknüpft. Anschaulich lassen sich so die Hintergründe der außenpolitischen Annäherung der Parteien nachvollziehen, die in der Bundestagsrede des SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner vom 30. Juni 1960 und im so genannten Jaksch-Bericht zu den Beziehungen mit den Ostblock-Staaten ihren Ausdruck fand.

Doch auch die Differenzen zwischen Regierung und Opposition sind aus den Ausschussprotokollen anschaulich ablesbar. Besonders interessant sind etwa die Diskussionen um ein militärisches Disengagegment in Europa, von dem sich SPD und FDP eine Entspannung zwischen den Blöcken und eventuell sogar Ansatzmöglichkeiten für eine Lösung der deutschen Frage erhofften. Die gegensätzlichen Standpunkte traten am 11. Februar 1959 zwischen Bundesaußenminister von Brentano sowie den SPD-Abgeordneten Schmid und Erler unmittelbar zu Tage. Letztere argumentierten, dass eine Überwindung der deutschen Teilung nur denkbar sei, wenn die innerdeutsche Grenze nicht mehr zugleich die Frontlinie der Militärblöcke sei. Eine operative Deutschlandpolitik habe daher, wie Carlo Schmid erläuterte, "den Versuch zu machen, neue Situationen zu schaffen." Hierzu schien eine militärische Entflechtung in Mitteleuropa besonders geeignet. Demgegenüber sah Brentano in einem Disengagement eine gefährliche Vorleistung, "die es praktisch unmöglich machen wird, dass die Sowjetunion zu einem späteren Zeitpunkt überhaupt noch bereit sein wird, eine politische Konzession zu machen." Er ließ sich aber gleichwohl zu dem erstaunlichen Statement hinreißen, dass die NATO "kein Dogma" sei und "nicht in der gleichen Weise fortbestehen" müsse, wenn die Umstände sich ändern sollten, unter denen sie entstanden sei: "Dann muß eben ein anderer militärischer Status für diese neugeordnete Welt hier in unserem Bereich gefunden werden." So weit hätte sich der Minister vor den Ohren seines Dienstherrn Bundeskanzler Konrad Adenauer wohl kaum vorgewagt, für den die NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik nie zur Disposition stand. Nicht zuletzt In solchen Einblicken in die tieferen Überzeugungen der politischen Akteure liegt der besondere Reiz der Edition.

Natürlich finden sich in den Dokumenten auch viele wichtige Hinweise zu zahlreichen weiteren außenpolitischen Themen der ausgehenden 1950er-Jahre bis zum Mauerbau. Vor allem die seit dem sowjetischen Ultimatum vom 27. November 1958 einsetzende Berlin-Krise, die vergeblichen Bemühungen um eine Verhandlungslösung in den Konferenzen von Genf 1959 und Paris 1960 finden ihren Niederschlag. Von geradezu ergreifender Authentizität ist das Protokoll der Ausschusssitzung vom 16. August 1961, die nur drei Tage nach der Abriegelung West-Berlins stattfand. Wortreich machte sich die Überraschung und hilflose Empörung der Abgeordneten Luft. Vor allem aber wird deutlich, dass alle Teilnehmer den 13. August lediglich als Auftakt zu einer weit gefährlicheren Zuspitzung verstanden, die nach dem erwarteten Abschluss eines Separatfriedensvertrags der Sowjetunion mit der DDR als unmittelbar bevorstehend betrachtet wurde. Man hielt daher energische Gegenmaßnahmen des Westens für notwendig: Bundesminister von Brentano hoffte auch ein weitreichendes Wirtschaftsembargo, innerhalb dessen die Bundesrepublik auch den heiklen Schritt einer Kündigung des Interzonenhandelsabkommens mit der DDR würde wagen können. Doch auch erste Zweifel an der Entschlossenheit des Westens kamen zum Ausdruck. Als der Ausschuss am 16. Oktober 1961 zu seiner letzten Sitzung der Legislaturperiode zusammenkam, musste selbst der Außenminister eingestehen, "daß in der Beurteilung der Lage auch unter den westlichen Alliierten und zwischen den Alliierten und der Bundesregierung z.T. erhebliche divergierende Ansichten bestünden." Die Empfindung war allgemein, dass die Teilung Deutschlands nunmehr endgültig vollzogen sei. Schon drei Jahre zuvor - an eben jenem eingangs erwähnten 8. Oktober 1958, als Carlo Schmid die Gemeinsamkeiten im Auswärtigen Ausschuss rühmte - hatte Heinrich von Brentano nüchtern festgestellt, wohl niemand rechne ernsthaft damit, dass die Sowjetunion "eines Tages sagen wird: 'Wir geben die Zone frei; wählt und macht, was ihr wollt!'" Dass es doch so kommen könnte, war zu diesem Zeitpunkt eine Vision, die von Tag zu Tag illusionärer erschien. Dass es gut 30 Jahre später tatsächlich so gekommen ist, wird bei der Lektüre der in dieser ausgezeichneten Edition vorliegenden Ausschussprotokolle einmal mehr als unschätzbarer Glücksfall erkennbar.

Daniel Kosthorst