Wolfhart Beck: Westfälische Protestanten auf dem Weg in die Moderne. Die evangelischen Gemeinden des Kirchenkreises Lübbecke zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 42), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2002, XIV + 456 S., ISBN 978-3-506-79615-8, EUR 46,40
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"Das Säkularisierungsparadigma ist passé". [1] Diese markante Aussage von Henning Pahl scheint zu apodiktisch. Eines aber macht sie deutlich: In die Konfessionsgeschichtsschreibung ist Bewegung gekommen. Religion ist wieder zum Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Betrachtung geworden. Die Einbeziehung sozial- und kulturgeschichtlicher Methoden hat gleichzeitig den Fragehorizont vieler aus der Theologie kommender Kirchenhistoriker erweitert. Wie fruchtbar diese Annährung verschiedener Universitätsdisziplinen ist, beweisen jüngere Veröffentlichungen aus dem Bereich der Kirchlichen Zeitgeschichte. [2] Tatsächlich führen die neuen Untersuchungen des Beziehungsgeflechts von Religion, Staat und Gesellschaft zu einer Hinterfragung des Paradigmas der Säkularisierung.
Wolfhart Becks Dissertation versteht sich als Beitrag zur Neubewertung des Säkularisierungsbegriffs. Sie will die "Verschränkung von Kirche und Gesellschaft" (5) "gegenstandsnah", also "in ihrer lebensweltlichen Konkretisierung", aufspüren. Dazu verlässt Beck die Ebene der protestantischen Landeskirchen und wählt den westfälischen Kirchenkreis Lübbecke als Untersuchungsregion. Er hofft in dem agrarisch geprägten und in der Tradition der Erweckungsbewegung stehenden Kirchenbezirk "die Wechselbeziehung von traditionaler sozioökonomischer Struktur und Kirchlichkeit vor der Folie langfristiger Wandlungsprozesse im Detail studieren zu können" (5). Dies ist ihm gelungen.
Der Verfasser verknüpft neuere Modernisierungskonzepte, die nicht von normativer Linearität in der Entwicklung westlicher Gesellschaften ausgehen, mit einem prozessualen Säkularisierungsbegriff, der nicht den Niedergang von Religion beschreibt, sondern den Wandel der Sozialform von Religion. Er versteht Säkularisierung in der Tradition Thomas Luckmanns als "zunehmende Ausdifferenzierung von Kirche und Religion aus dem gesamtgesellschaftlichen Kontext zu einem Teilsystem neben anderen gesellschaftlichen Segmenten" (7). Mit diesem komplexen Säkularisierungsbegriff gelingt es, sowohl den objektiven Beziehungsverlust vieler Menschen zur Kirche zu beschreiben, als auch die bleibende Nachfrage "kirchlicher Dienstleistungen" (291) im Blick zu behalten.
Zudem prüft der Autor, ob der für die Katholizismusforschung entwickelte Milieubegriff auch für die Erforschung des Protestantismus nutzbar gemacht werden kann. Er versucht die statische Trennung zwischen Kern- und Randgemeinde zu überwinden und den Blick auf die "Milieuöffnung und -durchbrechung" (11) zu lenken. Durch die Dynamisierung des Milieubegriffs können einerseits alternative Kirchlichkeitsformen besser erfasst werden, andererseits ermöglicht dieser Zugriff eine akzentuierte Untersuchung der Verschränkung von kirchlicher und dörflicher Lebenswelt.
Becks Studie ist im Kontext des Projektes "Gesellschaft in Westfalen. Kontinuität und Wandel 1930-1960" entstanden, verlässt jedoch diesen Zeitrahmen aus guten Gründen. Es ist richtig, sowohl die für den deutschen Protestantismus schwer wiegende Zäsur von 1918 als auch die soziokulturellen und innerkirchlichen Wandlungen der 1960er-Jahre einzubeziehen.
Der Verfasser präsentiert seine Ergebnisse in vier Abschnitten. Dabei wird jeweils untersucht, wie Kirche und ihre Vertreter auf die Herausforderungen des Modernisierungsprozesses reagieren.
Im ersten inhaltlichen Kapitel (25-88) wird die Situation in den ostwestfälischen Kirchengemeinden um die Jahrhundertwende beleuchtet. Beck betont dabei die Formierung von Gemeindemilieus, die in der neupietistischen Orthodoxie verwurzelt waren. Durch das Mitwirken von Pastoren an der Erweckungsbewegung konnte diese in kirchliche Bahnen gelenkt werden. Es entstanden "klar konturierte Kirchlichkeitskulturen" (37) mit "internen Kommunikations- und Organisationsstrukturen" (41), in deren geistiger Mitte die Pfarrer standen. Diese ausgeprägte Konfessionskultur war eng mit der dörflichen Volkskultur verwoben. Religiös-kirchliche Bindungen wurden mit weltlichen Verhaltensmaßregeln synthetisiert.
Durch eine zusätzliche enge Verbundenheit von konfessionellem Milieu und politischem Konservatismus erschienen einzelne Elemente der Moderne, wie die liberale Theologie oder die politische Linke, als Bedrohung für ein konservatives Kulturluthertum. Der Außendruck auf das Milieu wuchs und führte somit zur Sammlung und offensiven Mobilisierung.
Aufgrund der engen Bindung an die traditionale Ordnung wogen die mentalen Erschütterungen im Protestantismus, die Beck im nächsten Kapitel über die Zeit der Weimarer Republik (89-186) thematisiert, nach dem Ende des Kaiserreiches umso schwerer. Die zentrale Schwierigkeit der meisten Pastoren lag darin, dass sie nicht wussten, wie sie sich im demokratisch-pluralistischen Staat positionieren sollten. Das im Kaiserreich entwickelte Bedrohungsgefühl steigerte sich, und man sah sich von Feinden umzingelt.
Auf das Konzept der "lebendigen Gemeinden" als Antwort auf die kulturelle Pluralisierung hinzuweisen ist plausibel. Mit verschiedenen Neuansätzen in der Gemeindearbeit (zum Beispiel der Vereinsarbeit) wurde ein offensiver Umgang mit dem gesellschaftlichen Wandel erprobt. Der Verfasser betont dabei zurecht die ambivalente Rolle, die die neupietistischen Gemeinschaften dabei spielten. Einerseits stabilisierten sie den Milieukern durch ihre virtuose Frömmigkeit, andererseits trugen sie genau dadurch zu einer "inneren Segmentierung" (157) des kirchlichen Milieus bei.
Kirche verlor ihre umfassende Sinnstiftungsfunktion, behielt jedoch ihre gesellschaftliche Verankerung gerade im dörflichen Kontext bei. Dadurch wird die Form der "selektiven Kirchlichkeit" evident, die sich durch "eine partielle Inanspruchnahme im Bedarfsfall charakterisieren lässt" (186).
Nachdem die mit der 'nationalen Revolution' verknüpften Rechristianisierungsfantasien enttäuscht worden waren, entwickelte sich der Kirchenkreis Lübbecke zu einer Hochburg der Bekennenden Kirche. Becks Untersuchung fördert zu Tage, dass durch die Verflechtung von dörflicher Lebenswelt und konfessionellem Milieu Angriffe auf den soziokulturellen Besitzstand der Kirche abgewehrt werden konnten, ohne dass die Gemeindeglieder deswegen in prinzipielle politische Opposition gegen den Nationalsozialismus getreten wären.
Mit diesem Ergebnis werden die starren Deutungslinien der früheren Geschichtsschreibung des Kirchenkampfes aufgelöst, denn "konfessionelle Selbstbehauptung und politische Integration in den nationalsozialistischen Staat [...] kennzeichneten die spezifische Situation des Milieus" (223). Beck spricht hier von der "Konsensdimension" (288) von Protestantismus und Nationalsozialismus.
Hatten sich die protestantischen Gemeinden im Nationalsozialismus aus der Gesellschaft auf religiöse Bedarfsbedienung zurückgezogen, folgte in der Bundesrepublik eine Annährung an die neuen politischen und sozialen Rahmenbedingungen, die Beck im folgenden Kapitel (293-389) beschreibt. Doch diese Annährung geschah nur widerwillig. Durch die Dynamisierung und Mobilisierung der Industriegesellschaft, durch neue Leitbilder und Konsumstile veränderte sich die bisher agrarisch geprägte Dorfgesellschaft. "Die Interpretation des Strukturwandels als das Werk übermenschlicher, antichristlicher Gewalten verbaute den Zugang zu der sich wandelnden Welt" (338).
Ende der 1950er-Jahre setzte dann ein "konstruktiver Umgang mit den veränderten Lebensbedingungen der Moderne" (348) ein, der sich mit "rückwärtsgewandten Leitbildern" (370) frommer Vergemeinschaftung messen lassen musste. Insgesamt kam es zu einer Pluralisierung des kirchlichen Lebens, die unterschiedlichen Versuchen entsprach, Kirche in einer pluralen Gesellschaft zu positionieren.
Der Verfasser verlässt an dieser Stelle seinen offenen Milieubegriff und entscheidet sich nun endgültig für eine enge, auf den Gemeindekern bezogene Milieuabgrenzung. Dies erscheint sinnvoll, macht jedoch auch deutlich: Mit dem Aufbrechen der traditionellen dörflichen Lebenswelt wird es zusehends schwieriger, ein eigenständiges "protestantisches Milieu" zu identifizieren. Das tut der Sinnhaftigkeit der konsequenten Anwendung von "Milieu" als analytische Kategorie keinen Abbruch.
Becks akribische Langzeitstudie liefert durch die dezidierte Fokussierung der wechselseitigen Verflechtungen von Protestantismus und Gesellschaft wichtige Ergebnisse für die deutsche Gesellschaftsgeschichte. Sie untersucht den Wandel des Verhältnisses von Kirche zur Gesellschaft und gipfelt damit eben nicht in der These des unaufhaltsamen Bedeutungsverlustes der Kirche. Damit wird das Säkularisierungsparadigma revidiert. Gänzlich "passé" ist es deswegen nicht.
Anmerkungen:
[1] Henning Pahl: "Glaub' nur ans Wort, Bet' immerfort" - Deutungen und Reaktionen württembergischer Landpfarrer auf den gesellschaftlichen Wandel des 19. Jahrhunderts, in: Lothar Gall / Andreas Schulz (Hg.): Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2003, 111-145, hier: 111.
[2] Zum Beispiel die Reihe "Konfession und Gesellschaft", die neueren Veröffentlichungen der "Kommission für Zeitgeschichte" oder Olaf Blaschke / Frank-Michael Kuhlemann (Hg.): Religion im Kaiserreich. Milieu - Mentalitäten - Krisen, Gütersloh 1996.
Claudius Kienzle