Franz J. Bauer: Das 'lange' 19. Jahrhundert (1789-1917). Profil einer Epoche, Stuttgart: Reclam 2004, 102 S., ISBN 978-3-15-017043-4, EUR 3,00
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Periodisierungen sind notwendige, aber ungeliebte Wegmarken im historischen Terrain. Sie machen Geschichte erst erforschbar, aber sie verengen zugleich Perspektiven, schneiden Kontinuitäten künstlich ab und bringen durch die Verwendung von Etiketten die vielfältigen Tendenzen eines Zeitabschnitts im Wortsinne zu schnell und zu eindeutig auf einen Begriff. Die aktuelle Debatte, die zum Beispiel um den Absolutismusbegriff stattfindet, ist ein Teil der andauernden Auseinandersetzung um die unerwünschten Wirkungen von Epochenbegriffen.
Je näher man der Gegenwart kommt, desto schwieriger wird es, längere Zeitabschnitte mit einem treffenden Begriff zu belegen. Zudem wird das Identifizieren und Begründen von Zäsuren überhaupt schwieriger. Das gilt - vielleicht sogar besonders - für das 19. Jahrhundert, an dessen Konturen die Forschung in den letzten Jahrzehnten beharrlich feilt. Zunächst einmal gibt es neben dem 'langen' ein 'kurzes' 19. Jahrhundert, das mit Napoleon oder dem Wiener Kongress beginnt und vielleicht sogar bereits in den 1880er-Jahren endet. Darüber hinaus ist das Angebot an Epochenbegriffen für das 19. Jahrhundert außergewöhnlich breit und farbenfroh; es gibt keinen Begriff, der sich auch nur einigermaßen durchgesetzt hätte. Dagegen waren das lange wie das kurze 19. Jahrhundert lange Zeit inhaltlich ähnlich besetzt: als Epoche der Industrialisierung und Modernisierung, Demokratisierung und Nationalisierung, Verbürgerlichung und Säkularisierung. Doch davon ist kaum noch etwas unumstritten. Der Beginn der Industrialisierung hat sich im Extremfall an das Ende des Jahrhunderts (in die frühere 'Hochindustrialisierung') verschoben, die Dauer der 'vormodernen' "economy of manufacture" entsprechend verlängert. [1] Die Bedeutung der Nationalbewegung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist nach wie vor kontrovers, und inzwischen werden auch bezüglich der Popularität der Nationalstaatsidee in der Zeit zwischen 1848 und der Reichsgründung Bedenken laut. Die neue Adelsforschung zieht die Dominanz des Bürgertums in Zweifel, und statt von Säkularisierung ist - dank Olaf Blaschke - inzwischen bisweilen von Rekonfessionalisierung die Rede. Es ist nur konsequent, dass Jürgen Osterhammel - in diesem Fall in 'globaler' Perspektive - die Existenz eines '19. Jahrhunderts' überhaupt bezweifelt hat. [2]
Daher ist es zu begrüßen, dass Franz J. Bauer auf kurzem Raum eine niveauvolle und ansprechende Auseinandersetzung mit den Inhalten des 19. Jahrhunderts vorgelegt hat, die zumindest für die deutsche Geschichte Schneisen durch das Dickicht der Debatten schlägt.
Das Buch beginnt mit einer allgemeinen Einführung in die Problematik von Epochenbegriffen und der Vorstellung gängiger Periodisierungsmodelle für das 19. Jahrhundert. Im Hauptteil des Buches entwickelt Bauer seine These, das 19. Jahrhundert sei - trotz aller gegenläufigen Tendenzen - insgesamt durch den Weg in die Moderne gekennzeichnet, der sich in historistischem Fortschrittsdenken ebenso spiegele wie in Säkularisierung und Rationalisierung, Nationsbildung, Liberalismus und konstitutioneller Staatsbildung. Dies ist eine traditionelle - nicht aber: veraltete - Interpretation des 19. Jahrhunderts, die sich vor allem auf geistesgeschichtliche Strömungen stützt. Das Ende des 19. Jahrhunderts ergibt sich bei Bauer daher konsequent aus der wachsenden Kritik an den Maßstäben 'der Moderne' wie durch die politischen Ereignisse des 1. Weltkrieges oder der russischen Revolution. Über diesen Zugang lässt sich diskutieren (ebenso über die Bedeutung des Jahres 1917 für die deutsche Geschichte), aber er kommt dem Format des Buches, das äußerste Konzentration der Argumentation erfordert, und dem abstrakten Charakter der Fragestellung entgegen. Das Ergebnis ist ein Essay von großer Prägnanz und Kohärenz, der zugleich auf elegante Weise eine Einführung in neuere Forschungskontroversen zum deutschen 19. Jahrhundert darstellt und dem man nur wünschen kann, dass er in möglichst vielen Seminaren zur angenehmen Pflichtlektüre wird.
Anmerkungen:
[1] Richard Price: British Society 1680-1880: Dynamism, Containment and Change, Cambridge 1999.
[2] Jürgen Osterhammel: In Search of a Nineteenth Century, Bulletin of the German Historical Institute Washington D.C. 32 (Spring 2003), 9-28; <http://www.ghi-dc.org/bulletinS03/32.6-25.pdf>.
Andreas Fahrmeir