Alfons Frey: Die industrielle Entwicklung Bayerns von 1925 bis 1975. Eine vergleichende Untersuchung über die Rolle städtischer Agglomerationen im Industrialisierungsprozeß (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte; Bd. 76), Berlin: Duncker & Humblot 2003, 511 S., 263 S. Tabellen, ISBN 978-3-428-11172-5, EUR 98,00
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Die Zeiten, dass Bayern als rückständig bespöttelt und belächelt wurde, sind lange vorbei. Heute blicken die Nachbarn dagegen zumeist neidisch über die weiß-blauen Grenzen und fragen sich, wie dieses doch etwas merkwürdige Völkchen es geschafft hat, nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem Agrarland mit wenigen industriellen Kernen eine der wachstumsstärksten und krisensichersten Wirtschaftsregionen Deutschlands zu machen. Lange Zeit blieb es Politikern und Journalisten überlassen, dieses Phänomen zu erklären, und je nach Anlass und Parteizugehörigkeit fielen die Antworten auf die Frage nach den Ursachen der bayerischen Erfolge unterschiedlich aus. Für die einen galt es als ausgemacht, dass es die kluge Politik der bayerischen Staatsregierung und der christlichsozialen Mehrheitspartei gewesen ist, die den Freistaat zu dem gemacht hat, was er heute ist, für die anderen dagegen waren es die günstigen Rahmenbedingungen im allgemeinen und das westdeutsche Wirtschaftswunder im besonderen, die Bayern gleichsam automatisch nach vorne schoben, sodass sich die Granden der bayerischen Politik letztlich mit fremden Federn schmückten.
Von bemerkenswerten Ausnahmen wie der schon 1969 erschienenen Dissertation von Klaus Schreyer (Bayern - ein Industriestaat. Die importierte Industrialisierung. Das wirtschaftliche Wachstum nach 1945 als Ordnungs- und Strukturproblem) abgesehen, hat sich die Geschichtswissenschaft bei der Erforschung der Wirtschafts-, aber auch der Wirtschaftspolitik- und Sozialgeschichte Bayerns nach 1945 lange Zeit sehr zurückgehalten. Erst seit rund einem Jahrzehnt ist ein stärkeres Interesse an diesen Themen zu verspüren, wobei wiederum verschiedene Faktoren ausgemacht wurden, die man als konstitutiv für Bayerns Weg in die Moderne ansah, ohne diese freilich abschließend gewichten zu können.
Es ist eigentlich banal, darauf hinzuweisen, dass komplexe Prozesse selten monokausal erklärt werden können und dass das Resultat einer Untersuchung stark von der gewählten Fragestellung abhängt. Alfons Frey hätte jedoch in seiner 2002 an der Katholischen Universität Eichstätt angenommenen, von Hubert Kiesewetter betreuten Dissertation gut daran getan, sich öfter an diese Maxime zu erinnern. Denn er verwirft in seiner Studie über die Industrialisierung Bayerns zwischen 1925 und 1975 unter besonderer Berücksichtigung städtischer Ballungsräume nicht nur des öfteren bedenkenswerte Thesen und Forschungsergebnisse der Konkurrenz, ohne diese gründlich zu diskutieren, sondern neigt selbst zu monokausalen Erklärungsansätzen.
Seine Antwort auf die Frage nach den Ursachen für den bayerischen Erfolg ist daher auch relativ simpel. Die entscheidende Voraussetzung sei der sehr hohe Industriebesatz in den traditionellen Industriestädten Bayerns in den Sparten Maschinen- und Fahrzeugbau sowie Elektrotechnik schon vor 1925 gewesen. Dazu seien die Rüstungsaufträge vor und während des Zweiten Weltkriegs sowie die Verlagerung von Betrieben aus Berlin und der sowjetischen Besatzungszone nach 1945 gekommen. Da Bayerns Industrialisierung zudem spät erfolgt sei, habe überdies eine moderne Branchenstruktur mit zukunftsfähigen Produkten bestanden, die von der Krise alter Industrien wie Kohle und Stahl nicht allzu sehr belastet worden sei. Dieser Prozess scheint gleichsam urwüchsig verlaufen zu sein, und es ist kein Wunder, dass Frey der Politik keine große Bedeutung beimisst - weder auf der kommunalen, noch auf der Landes-, noch auf der Bundesebene. Allerdings kommt er zu diesem Schluss, ohne sich intensiver mit der Frage zu beschäftigen, welche Rolle staatliches Handeln eigentlich spielte, sei es auf dem Gebiet der Infrastrukturpolitik, der Bildungspolitik oder auch der Agrar- und Sozialpolitik. Nicht einmal die Industriepolitik ist ihm die Mühe einer eingehenderen Untersuchung wert gewesen, obwohl ohne staatliche Interventionen Schlüsselunternehmen wie BMW und Audi die Fünfzigerjahre vielleicht nicht überlebt hätten und obwohl sich ohne bestimmte politische Konstellationen die Konzentration von Betrieben aus dem Sektor Luft- und Raumfahrttechnik in Bayern vermutlich nicht vollzogen hätte.
Dementsprechend kommt die Studie von Alfons Frey weitgehend ohne Akten aus; auch auf eine gründliche Auswertung der Sekundärliteratur hat der Autor verzichtet. So fehlen beispielsweise die Studien Alf Mintzels, auch die Arbeiten von Wolfgang Zorn wurden kaum zu Kenntnis genommen, ebenso wenig wie wichtige Publikationen aus der Feder bayerischer Landesplaner oder gar Literatur zur Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik; dass er zudem das vom Institut für Zeitgeschichte durchgeführte Projekt "Gesellschaft und Politik in Bayern 1949 bis 1973" praktisch konsequent ignoriert hat, sei nur am Rande erwähnt - hier muss der Rezensent aus Befangenheit schweigen. Dagegen breitet Frey - die Kolleginnen und Kollegen werden ihm für seinen Fleiß dankbar sein - statistisches Material in beängstigender Fülle aus; ja der statistische Anhang ist ihm letztlich umfangreicher geraten als die analytische Darstellung. Doch Zahlen, so hilfreich sie auch sein mögen, erklären nichts. Auch nicht den Aufstieg Bayerns vom Agrar- zum Industrieland.
Thomas Schlemmer