Arne Karsten (Hg.): Jagd nach dem roten Hut. Kardinalskarrieren im barocken Rom, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 304 S., 9 Abb., ISBN 978-3-525-36277-8, EUR 24,90
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Bekanntermaßen erfreut sich Geschichte heute einer ambivalenten Wertschätzung. Dies gilt gerade für das Doppelphänomen Kirche und Religion. Einerseits gibt es Ablehnung oder Desinteresse, weil Ansprüche und Normvorstellungen von Religion und Kirche nicht mehr mit modernen Werten übereinzustimmen scheinen. Andererseits lockt die Faszination des Geheimnisvollen und der Macht, wodurch vor allem der Unterhaltungswert historischer Themen in den Vordergrund rückt. Der von Arne Karsten herausgegebene Sammelband zu barocken Kardinalskarrieren belegt exakt jene beiden ambivalenten Felder. Sein Zielpublikum ist offenbar der historisch interessierte Leser, der sich anhand ausgewählter Kurzbiografien mit den tiefer liegenden Strukturen und Mechanismen der Macht und insbesondere der Macht von Sozialbeziehungen auseinander setzen will. Daher soll an dieser Stelle eine Einordnung in den Forschungskontext zu den sozialen Beziehungsgeflechten der Frühmoderne unterbleiben.
Die im Band versammelten 15 Beiträge, die von einer Einleitung Karstens und einem Nachwort Volker Reinhardts gerahmt werden, konzentrieren sich im Wesentlichen auf die Zeit zwischen 1550 und 1650. Die überwiegend jungen, teilweise unpromovierten, teils habilitierten Autoren stellen 'ihren' Kardinal in einer modernen, lockeren, bisweilen saloppen Sprache dar, was der Beschreibung und Analyse zugute kommt. Die witzig-ironischen, auch bösartigen Überschriften unterstreichen dies: In "Zu früh gefreut" stellt Arne Karsten die misslungene Kandidatur des - sich im Gefühl des sichereren Sieges wähnenden - Kardinals Marcantonio Colonna beim zweiten Konklave des Jahres 1590 und die in letzter Nacht erfolgreiche Intrige des Sforza-Kardinals ebenso 'einfühlsam' wie plastisch dar. Allerdings wollen die Überschriften nach der Lektüre nicht immer einleuchten, wie es sich am Beispiel des Beitrags von Guido Metzler ergibt, der der Politik des Kardinals Ottavio Acquaviva d'Aragona "Wahnsinn, mit Methode" attestiert. Dieser neapolitanische Adelige orientierte sich - obwohl spanischer Untertan - hin zu Frankreich, das an der Wende des 16. und 17. Jahrhunderts keineswegs eine beherrschende Stellung auf dem europäischen Kontinent einnahm. Wiewohl risikoreich, erscheint seine karrierepolitische Option keineswegs als wahnsinnig, vielmehr scharf kalkuliert, zumal sie sich an der im Rom der 1590er-Jahre verfolgten frankophilen Politik orientierte - an der er nach dem Erwerb des Erzbistums Neapel und infolge der dort ausgebrochenen Jurisdiktionsstreitigkeiten letztlich scheiterte, weil Rom im Konflikt mit Neapel / Madrid auf diplomatische Entspannung setzte. Wahnsinnig war demnach nicht die Strategie Acquavivas, sondern allenfalls die Stringenz, mit der er sein Kardinalat verfolgte.
Überblickt man die Gesamtheit der beschriebenen und analysierten Kardinalskarrieren, lassen sich nach der Lektüre fünf Typen destillieren. Zum einen politische 'Macher' wie Ascanio Maria Sforza (Philipp Zitzlsperger), der am Beginn des 16. Jahrhunderts seine Stellung zu nutzen versuchte, um den Fall seiner Familie aufzuhalten und ihr Überleben zu sichern. Zu dieser Gruppe zählen ebenso die Kardinäle Giuseppe Garampi und Fabrizio Ruffo (beide von Volker Reinhardt dargestellt), die im 18. Jahrhundert den päpstlichen Kampf gegen die Aufklärung und die Französische Revolution organisierten und wenigstens teilweise erfolgreich führten. Zum anderen zeigt sich eine Gruppe sozialer und politischer Aufsteiger wie Innocenzo Ciocchi del Monte (Daniel Büchel), der es vom Affenwärter des späteren Papstes Julius III. bis zum Purpurträger und Kardinalnepoten brachte, obwohl er Zeit seines Lebens ein sozialer Außenseiter blieb und noch nicht einmal in das päpstliche Familiennetz integriert war.
Dieser Gruppe von erfolgreichen Sozialkarrieristen steht die Schar der soziopolitischen Absteiger und Unangepassten gegenüber. Neben dem bereits skizzierten, zweifelsohne spektakulären Fall des Marcantonio Colonna wäre insbesondere das Schicksal des Kardinalnepoten Pietro Aldobrandini (Tobias Mörschel) zu erwähnen, der sich nach dem Tod seines Onkels nicht mit den neuen Gegebenheiten arrangieren und die Spielregeln der Macht nicht akzeptieren wollte, aber schnell merkte, wie rasch seine Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt wurden. In anderer Weise unangepasst verhielt sich Federico Borromeo (Julia Zunckel), dessen Name ihm eine Verpflichtung war, der er nachkommen wollte, dessen kirchenreformerischer Eifer allerdings auf immer weniger Verständnis in der römischen Gesellschaft stieß, zumal alte Klientele wegstarben. Ähnlich erging es dem Kardinalstaatssekretär Lorenzo Magalotti (Ulrich Köchli), der sich in den 1620er-Jahren aus dem römischen Zentrum in seine Diözese Ferrara zurückzog, weil der als Eiferer angesehene Kardinal in die nachtridentinische, aber ebenso schon nachreformerische Ära Urbans VIII. nicht mehr passte.
Als vierte Gruppe sticht diejenige der Instrumentalisierten und Kreaturen unterschiedlichster sozialer Herkunft hervor, die - wie im Falle des Fürstkardinals Maurizio von Savoyen (Tobias Mörschel) oder der spanischen Kronkardinäle (Hillard von Thiessen) - aus machtpolitisch-geostrategischen Gründen promoviert wurden. In diese Gruppe sind auch jene Regierungs- und Verwaltungskräfte wie der unkreative Kardinalstaatssekretär Fabrizio Spada (Arne Karsten) oder Familiare wie Angelo Giori einzureihen (Carolin Behrmann), der nach dem Ende des Barberini-Pontifikats die schwierige Situation der Dynastie in Rom zu meistern sich bemühte.
Derartige Typisierungen sind selbstverständlich verkürzend und damit auch anfechtbar. Immerhin bieten sie jedoch die Chance, die Varianz der Karrieren, die Multifunktionalität der beschriebenen Netzwerke und vor allem die Interdependenz der Beziehungen zwischen Klientelführern und Klienten aufzuzeigen. Denn wie sich am Beispiel des schon genannten Angelo Giori - eines Familiaren der Barberini, der über vierzig Jahre hinweg Karriere machte und Zeit seines Lebens als unselbstständige Kreatur und Außenseiter gesehen wurde - erweist, konnte die Bedeutung der Klienten mit dem Abstieg der Klientelführer durchaus wachsen: Giori war der maßgebliche Vertreter der Barberini in Rom nach dem Tode Urbans VIII. 1644 und während des Exils der Familie in Frankreich: Er leitete und organisierte nämlich die Realisierung des Grabmals Urbans VIII. ebenso wie schon zuvor die Restaurierung und Umgestaltung des Lateranbaptisteriums San Giovanni in Fonte - und sicherte damit die Bewahrung der Barberini-Memoria in Rom.
So interessant, spannend und witzig sämtliche Beiträge sind, so wenig kann Kritik ausbleiben. Bereits der Titel des Sammelbandes ist irreführend, weil den eigenen Wert mindernd. Nicht die "Jagd nach dem roten Hut" steht im Vordergrund der Beiträge, nicht der Weg zum Purpur, sondern - viel wichtiger - die "Eminentes", das Kardinalat an sich. Die zeitliche Konzentration des Sammelbandes auf die Epoche zwischen 1550 und 1650 ist angesichts der Auswahl der Autoren und ihrer bisherigen Arbeitsschwerpunkte nachvollziehbar. Dennoch schmerzt es, dass gerade das 18. Jahrhundert - jene europäische Sattelzeit-Epoche - nur mit zwei Beiträgen vertreten ist, zumal Volker Reinhardt mit Recht auf die Forschungsdefizite für diese Zeit der "Zweiten Katholischen Reform" (218) hinweist. Gleiches gilt für die Frage, inwieweit ein beschleunigter Wandel im Kardinalskollegium zwischen 1800 und 1850 stattfand.
Ebenso ist zu bedauern, dass eine systematisierende Einleitung oder ein Nachwort mit einem systemgeschichtlichen Zugriff fehlt. Kurze einschlägige Bemerkungen in den einzelnen Beiträgen können dieses Defizit nicht auffangen, was umso schwerwiegender ist, als der Sinn, Zweck und das Ziel solcher Netzwerke nicht einfach in die Moderne übertragen werden können. Wenn dem Leser ein Vergleich mit der Moderne ermöglicht werden soll, wäre ein entsprechendes Deutungsangebot beziehungsweise eine entsprechende wissenschaftliche Einordnung sinnvoll erschienen, gerade auch um die Frühe Neuzeit als werdende Moderne stärker zu profilieren. Vor diesem Hintergrund ist Karstens einleitende Bemerkung (12) umso gravierender, es gäbe kaum Unterschiede zwischen den Kardinalskarrieren und modernen Politikerkarrieren hinsichtlich der Nutzung, Bedeutung und Funktionsweise von Freundschaften und Klientelen. Denn sie birgt die Gefahr, solche personalen Netzwerke in die Sphäre einer anthropologischen Konstante zu rücken und damit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu entziehen, dafür populärhistorische Vorurteile zu bekräftigen und Stereotypen zu befördern. Doch kann nicht das Interesse an dem Netzwerk an sich bestehen, sondern nur an dessen Funktionsweise und Bedeutung, um die politische Kultur einer Epoche und / oder eines politisch-sozialen Systems analysieren zu können. Wenn man zudem den Vergleich mit der Moderne wagen will, wäre noch zu fragen, wo die diesbezüglichen Unterschiede zwischen Früher Neuzeit und Moderne liegen.
Trotz dieser Kritikpunkte kann und darf kein Zweifel an dem hervorragenden Wert dieses Sammelbandes bestehen! Er ist informativ, unterhaltend und bietet - wie die Bemerkungen des Rezensenten beweisen - für jeden Leser genügend Stoff zum Nachdenken und Diskutieren.
Alexander Jendorff