Wolfgang J. Mommsen: Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914-1918 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte; Bd. 17), 10. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta 2002, 188 S., ISBN 978-3-608-60017-9, EUR 30,00
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Michael Salewski: Der Erste Weltkrieg, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, 415 S., ISBN 978-3-506-77403-3, EUR 29,90
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Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hgg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. In Verbindung mit Markus Pöhlmann, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, 1002 S., ISBN 978-3-506-73913-1, EUR 58,00
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Mit dem Herannahen der 90. Wiederkehr des Kriegsausbruchs 1914 muss in den Regalen der Fachbibliotheken Platz geschaffen werden für einen erheblichen Zuwachs an Monografien, Sammelbänden und Gesamtdarstellungen zu jenem kapitalen welthistorischen Ereignis, das anderwärts auch der "Große Krieg" genannt wird. Vieles ist in den letzten Jahren bereits erschienen, manches wird 2004 noch hinzukommen. Dabei lässt sich die ganze Breite der Fragestellungen und Zugangsweisen begutachten, welche die Weltkriegsforschung inzwischen erreicht hat.
Der "Gebhardt", das im Generationenwechsel immer wieder neu Bilanz ziehende Traditionshandbuch zur deutschen Geschichte, wird es in seiner 10. Auflage wohl etwas schwerer als seine Vorgänger haben, im Lehrbuchkanon jene unangefochtene Spitzenposition zurückzugewinnen, die früheren Auflagen gemeinhin vergönnt war. Die Zahl - und damit Konkurrenz - der Synthesen und Gesamtdarstellungen ist größer geworden, die Ansprüche an die darstellerische Integrationsleistung sind gestiegen. Dass sich die thematische Spannweite, die eine Synthese des Forschungsstandes abzubilden hat, seit der letzten Auflage des "Gebhardts" beträchtlich erweitert hat, gilt gerade auch für den Ersten Weltkrieg. Roger Chickering hat 1998 (deutsch 2002) mit einer knappen und vorzüglichen Bilanz der Weltkriegsforschung hier Maßstäbe gesetzt. [1]
Mit Wolfgang J. Mommsen zeichnet als Verfasser des Weltkriegs-Bandes ein Vertreter jener Historikergeneration verantwortlich, die seit den Sechzigerjahren insbesondere die sozialgeschichtliche Erweiterung der herkömmlichen Politikgeschichte vorangetrieben hat. Zuletzt hat Mommsen sich besonders dem Verhältnis von Hochkultur und Krieg zugewandt. Beide Gesichtspunkte machen, abgesehen von Deutungsfragen, den konzeptionellen Unterschied aus, der sich zum Vorgängerband des "Gebhardts" feststellen lässt (1973 von Karl Dietrich Erdmann). Mommsen zieht die Fäden der Weltkriegsforschung auf dem begrenzten Raum von 150 Seiten souverän zusammen. Seine Darstellung komprimiert dabei im Wesentlichen die erzählerisch weiter ausholende Schilderung des zweiten Bands seiner Geschichte des Kaiserreiches, kleine Nuancenverschiebungen in der Bewertung nicht ausgeschlossen.
Was zunächst den Weg in die Katastrophe betrifft, sieht Mommsen drei entscheidende Faktoren am Werk; sie zusammengenommen hätten, so liest man, den Ausbruch des Krieges "nahezu unvermeidlich" gemacht (22). Zum einen den Imperialismus, der inzwischen auch Mächte mittleren Ranges erfasst hatte. Für das Deutsche Reich betont Mommsen seit langem den anschwellenden Erwartungsdruck der bürgerlichen Öffentlichkeit als treibendes Moment, ein Faktor, der maßgeblich auf die Entscheidungen der Reichsleitung in der Julikrise 1914 eingewirkt habe. Hinzu kam als selbstständiges Konfliktfeld der Rüstungswettlauf der großen Mächte. Auch daran war das Deutsche Reich in vorderster Front beteiligt. Die Erwartung eines unvermeidlich herannahenden Krieges wurde zur "self-fulfilling prophecy" (25). Als ein dritter Verursachungsfaktor fiel schließlich die zunehmende Versäulung der Bündnissysteme ins Gewicht. Bethmann Hollwegs Strategie lief im Juli 1914 darauf hinaus, den lokalen Konflikt der Habsburgermonarchie mit Serbien zum Testfall zu machen, ob Russland tatsächlich zum Krieg entschlossen war, und die dem Reich gegenüberstehenden Großmächte nach Möglichkeit auseinander zu manövrieren. Als offenbar ebenbürtigen Ursachenfaktor hält Mommsen überdies an seiner Variante der Sozialimperialismus-These fest, der zufolge die Führungseliten "in gewissem Sinne" die Zuflucht im Krieg gesucht hätten (150), weil sich andernfalls die überfälligen politischen und gesellschaftlichen Reformen nicht mehr hätten abwehren lassen. Diese These, seit den Siebzigerjahren heftig diskutiert, dürfte sicher zu denjenigen zählen, die nicht überall auf ungeteilte Zustimmung stoßen werden.
Mommsen schildert sodann abwechselnd jeweils den militärischen Kriegsverlauf und die innere Politik des Reiches. Er behandelt den "Burgfrieden", das Scheitern des Schlieffen-Plans und den Übergang zum Stellungs- und Abnutzungskrieg, geht auf die Ausweitung des Krieges durch den Eintritt weiterer, bisher neutraler Staaten ein, zeichnet die Kriegeszieldiskussionen nach, den Übergang zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg und die Absetzung Bethmann Hollwegs im Juli 1917. Bethmann Hollwegs "Politik der Diagonale" oberhalb der Parteien bezeichnet er als "Farce" (59), im halbautoritären Herrschaftsgefüge konnte von der behaupteten Unabhängigkeit der Reichsleitung keine Rede sein. Durch die "gefährliche Vieldeutigkeit" (59), die dieser Politik innewohnte, habe der Kanzler es sich schließlich mit allen verdorben. Das Buch besitzt in diesen Passagen weitgehend Handbuchcharakter in einem traditionellen Sinne. Es führt durch den Gang der politischen und militärischen Ereignisse, ohne dabei allzu großkalibrige Interpretationsgeschosse aufzufahren oder zu langatmigen Reflexionen einzuladen.
Ein thematischer Mittelblock zeichnet, wie von einer modernen Gesamtdarstellung des Weltkrieges erwartet werden darf, die Grundzüge und Entwicklungslinien der deutschen Kriegsgesellschaft nach: zunächst die kriegswirtschaftlichen Mobilisierungsanstrengungen, das bald aus dem Ruder laufende System der Kriegsfinanzen und die Bewirtschaftung von Rohstoffen und Lebensmitteln, dann insbesondere die tiefgreifenden Auswirkungen des Krieges auf Sozialstruktur und soziale Lage. Auf die kriegswirtschaftlichen Entscheidungen gewannen Unternehmerinteressen - Mommsen zufolge - mehr Einfluss als etwaige staatliche Planungsabsichten. Nicht die Großunternehmen seien in den Dienst des Staates genommen worden, heißt es pointiert, das Gegenteil war der Fall. Zu den schwerwiegenden sozialen Spannungen und Umschichtungen, die der Krieg hervorrief, gehörte der soziale Abstieg erheblicher Teile des Mittelstandes, die wachsende Fragmentierung der Gesellschaft, gleichzeitig aber auch vielschichtige soziale Nivellierungsprozesse. Statt der traditionellen Klassenkriterien waren es die Bruchlinien zwischen den vermeintlichen Gewinnern und Verlierern der Kriegsgesellschaft, die nun entscheidendes Gewicht erlangten. Auf zehn Seiten illustriert Mommsen die Haltung der kulturellen Eliten und der Kirchen zum Krieg - die Intellektuellen reagierten zunächst mit breiter Zustimmung, erst ab 1916 machte sich in Teilen eine nachdenklicher Einstellung breit -, um dann auch dem Alltag an der Front und in der Heimat einige erhellende Seiten zu widmen. Die Aussage freilich, Fahnenflucht sei auch im deutschen Heer unnachgiebig mit dem Tod bestraft worden, ist weit entfernt von den gründlichen Forschungsergebnissen Christoph Jahrs zu dieser Frage. [2] Ein letzter Abschnitt behandelt die Friedens- und Kriegszieldebatte 1917/18, den zum "Gewaltfrieden" von Brest-Litowsk führenden Zusammenbruch der russischen Front, schließlich das Scheitern der deutschen Westoffensive und den anschließenden Zusammenbruch 1918.
Das Verfassungsgefüge des Kaiserreichs wird insgesamt als ein System sich abwechselnder und zugleich auch ergänzender Halbheiten porträtiert, vor dem Krieg "halbkonstitutionell", dann sowohl "halbautoritär" wie schließlich auch "halbparlamentarisch". Die dialektischen Kontrastfiguren, die zu diesen halben Wahrheiten jeweils hinzugedacht werden müssen, waren vor 1914 die alten Herrschaftseliten, dann die maßvoll nach Mitsprache strebenden Parteien, zuletzt die 'Oberste Heeresleitung' (OHL). Das "System bürokratischer Regierung mit parlamentarischem Zusatz" erwies sich aufgrund der inneren Spannungen, die es hervorbrachte, den Kriegserfordernissen immer weniger gewachsen. Das Kaiserreich erscheint auch noch im Weltkrieg als jenes "System umgangener Entscheidungen", als das es Mommsen vor zweieinhalb Jahrzehnten gedeutet hat. [3]
Michael Salewskis Schilderung des Ersten Weltkrieges darf wohl nicht streng an den Maßstäben gemessen werden, denen ein Hand- und Lehrbuch genügen muss. Ein solches will das Werk offenkundig gar nicht sein. Immerhin, die mit schwungvoller Feder geschriebene Darstellung ist aus einer Vorlesung hervorgegangen und schon deshalb sollte es zu ihren Ansprüchen gehören, einen aktuellen Überblick über den Stand der Weltkriegsforschung zu bieten. Salewski beansprucht nichts geringeres, als eine "eigenständige Textsorte" vorzulegen (IX). Damit dürfte vor allem wohl gemeint sein, dass das Buch durch die zahlreich eingestreuten Vergleiche mit verwandten Ereignissen aus naher und ferner Vergangenwart ebenso wie durch den wiederholten Einschub kontrafaktischer Gedankenspiele einen eigenen Charakter und Reflexionsgehalt gewinnen soll. Das gelingt mal mehr, mal weniger, jedenfalls erhält der Text dadurch einen bisweilen eher essayistischen Anstrich.
Die ersten hundert Seiten des Werkes dienen der Erklärung, wie es zum Weltkrieg kam. Hier werden in ziemlicher Breite die wesentlichen Faktoren abgehandelt, die zu Recht oder Unrecht zum Ursachengeflecht für den Ausbruch des Krieges gezählt werden können: besonders wichtig das Weltreich-Denken (S. Neitzel), Militarismus und Wettrüsten, die Automatismen der militärisch-strategischen Planung und das außenpolitische Denken in militärischen Kategorien (Einkreisungs-Furcht). Salewski wirft einen Blick auch ins Innere der großen Mächte. Am besten weg kommt dabei, anders als in Niall Fergusons sehr umstrittener Darstellung "The Pity of War" (deutsch 1999) [4], die britische Demokratie, für die nach der Salewskis Überzeugung bereits das "von den Politikwissenschaftlern erarbeitete Gesetz zu greifen begann" (48, ein Nachweis für dessen Urheber fehlt), nach dem Demokratien strukturell unfähig seien, Angriffskriege zu führen.
Alles in allem liegt über den analysierten Ursachenketten und Ereignissträngen ein Hauch des Irrationalen. Alle hätten sich eigentlich klar sein müssen, schreibt Salewski, dass es im Krieg mehr zu verlieren als zu gewinnen gab. Nachvollziehbar erscheint dem Autor gerade die deutsche Vorkriegs-Außenpolitik nur dann, wenn man die "Spieltheorie" bemüht (77). Tatsächlich bleibt es dann aber auch bei einer konventionellen Schilderung der Julikrise, ohne dass die unterschiedlichen spieltheoretischen Konstellationsannahmen und Matrixvarianten irgendwie zum Vorschein kommen. Salewski stellt die Frage, warum es nicht möglich war, noch rechtzeitig die Eskalationsdynamik des Juli 1914 abzustoppen, und er beantwortet sie mit der Feststellung, die maßgeblich Beteiligten seien bis zum bitteren Ende eben davon überzeugt gewesen, es handele sich um ein Pokerspiel oder eine Art russisches Roulette, bei dem nichts schlimmer erschien, als sich eine Blöße zu geben und sein Gesicht zu verlieren. Dieses Argument als "spieltheoretisch" zu bezeichnen wäre gewiss zu hoch gegriffen.
Zu den sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlichen Entwicklungen, zentralen Forschungsfeldern der letzten Jahrzehnte, hat Salewski wenig zu sagen. Die Ernährungslage und -politik wird vor allem unter dem Gesichtspunkt behandelt, wie sehr die britische Blockade dem Reich zu schaden vermochte und wie weit sie zu dessen Zusammenbruch beitrug. Zwar bemerkt Salewski beiläufig, dass sich im Weltkrieg ganz neue gesellschaftliche Fronten herausbildenden, Stadt gegen Land, "Kopfarbeiter" gegen "Arbeiter der Faust", Soldaten gegen Zivilisten, "sogar Frauen gegen Männer" (169). Zu einem tragenden Analysegesichtspunkt werden diese verschärften Konfliktlagen dennoch nicht gemacht. Wer nach dem Ertrag der frauen- oder gendergeschichtlichen Forschungen sucht, geht weitgehend leer aus. Selbst das "Hilfsdienstgesetz" von 1916, sozialpolitisch eine der zentralen Begebenheiten des Weltkrieges, wird lediglich im Vorbeigehen kurz genannt, ohne jedoch näher erläutert zu werden. Bleiben gesellschaftsgeschichtliche Entwicklungen von solcher Tragweite wie der soziale Niedergang großer Teile des Mittelstandes und der alle anderen sozialen Konfliktlinien überformende Gegensatz zwischen Konsumenten und Produzenten unerörtert, fehlen wichtige Bausteine, um den Zusammenbruch des Reiches und die sozialen Verwerfungen, die der Krieg hervorrief, angemessen verstehen zu können.
Salewskis Neigung zum Superlativ führt ihn bisweilen zu Wertungen, die Widerspruch herausfordern. Die Behauptung, die Hohenzollern'sche Monarchie habe nie fester im Sattel gesessen als nach der "Osterbotschaft" 1917 wird man wohl mit einem kräftigen Fragezeichen versehen müssen. Tatsächlich hat das halbherzige Versprechen einer preußischen Wahlrechtsreform nach Kriegsende, wie bei Salewski selbst nachzulesen ist, fast alle Seiten unbefriedigt gelassen, den einen ging sie zu weit, den anderen nicht weit genug. Es dürfte auch kaum zutreffen, dass die Gesellschaft umso weniger bereit war sich einzugestehen, dass "alles für die Katz gewesen sei", je höher das Elend stieg und je entsetzlicher das Menschenschlachten an der Front empfunden wurde (302). Die in den amtlichen Stimmungsberichten greifbare Friedenssehnsucht spricht hier eine andere Sprache.
Keinen Zweifel will Salewski daran aufkommen lassen, was von den Thesen Fritz Fischers und seiner Schüler, aber auch von Sozialimperialismus-Ansätzen zu halten ist. Er hält sie für abwegig. Das Reich hatte sich vor 1914 auch nicht in eine permanente, unentwirrbare Krise verrannt, es war auf gutem Weg - hier schließt er sich der Interpretation Manfred Rauhs an - zu einem parlamentarischen "Normalstaat" (57) westeuropäischen Musters zu werden. Für Mommsens Teilthese einer Flucht der anachronistisch gewordenen Führungseliten in den Weltkrieg, bleibt in Salewskis Deutung kein Platz. "Wer die tradierte Sozialstruktur konservieren wollte", schreibt er lapidar, "brauchte alles andere als einen Krieg" (105). Auch wenn er die inneren Spannungen nicht leugnet, denen das Kaiserreich ausgesetzt war, die autoritäre Staatsform zählt er - anders als Mommsen - nicht zu den Kriegsursachen, schon deshalb nicht, weil es eine solche im Kaiserreich von 1914 eigentlich gar nicht gab.
Solche Bewertungsdivergenzen setzen sich auch für die innere Entwicklung des Reiches nach 1914 fort. Bethmann Hollweg kommt bei Salewski etwas besser weg als bei Mommsen. Wo dieser im Hinblick auf die konstitutionelle Entwicklung vorsichtig von einem "Halbparlamentarismus" spricht (der bald jedoch an seine Grenzen gestoßen sei) (136), sieht Salewski 1917 bereits die parlamentarische Demokratie Einzug halten, was ihn nicht daran hindert, drei Seiten weiter ebenso die de facto-Existenz einer Militärdiktatur festzustellen. Wie auch immer man zu der Frage stehen mag, ob die Einsetzung des Interfraktionellen Ausschusses bereits "als Beginn des parlamentarisch-demokratischen Systems in Deutschland" zu bewerten ist (250 f.), die Antwort ist jedenfalls strittiger als Salewski suggeriert.
Salewskis Domäne ist die militärgeschichtliche Entwicklung (und sein besonderes Anliegen ist die Seekriegsführung). Hier liegt gewiss die Stärke des Buches. Wer sich über die Kriegspolitik des Reiches, den Gang der militärischen Handlungen und die zu Grunde liegenden strategischen Überlegungen informieren will, für den bietet die kenntnisreiche Entfaltung der Materie eine lohnende Lektüre. Und da die Militärgeschichte lange Zeit mehr von der Allgemeingeschichte isoliert war, als beiden bekommen konnte, wird man sicher zustimmen können, wenn Salewski dafür plädiert, ihr wieder einen angemessenen, also zentralen Platz im Gesamtbild des Krieges zu verschaffen. Ob sich die Vertreter einer "Militärgeschichte in der Erweiterung", die sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen aufgreift, in dem Buch wieder finden, kann hier dahingestellt bleiben. Es verdient jedenfalls Erwähnung, dass Saleweki es nicht bei einer bleiernen Chronologie der Schlachtenfolge belässt, sondern in seine Ausführungen auch Reflexionen zur Lage in den Schützengräben und zur mentalen Disposition der Soldaten einstreut, die darüber sehr wohl hinaus gehen.
Sachliche Schnitzer machen allerdings mehrfach etwas stutzig. Max von Baden kann als Reichskanzler nicht gut zweifelnde Fragen zur Frühjahrsoffensive 1918 gestellt haben, denn er übernahm dieses Amt erst im Oktober jenes Jahres. Von den fünf namentlich genannten Abgeordneten der SPD (von insgesamt wahrscheinlich 14), die am 4. August 1914 bei einer fraktionsinternen Abstimmung gegen eine Zustimmung zu den Kriegskrediten votiert haben sollen, war tatsächlich nur einer Reichstagsmitglied (Karl Liebknecht). Manche Behauptung steht im Übrigen auf unsicheren Füßen. So wird die zeitgenössische Schätzung mitgeteilt, dass es zu etwa 760.000 zivilen Kriegsopfern gekommen sei. Dass dies "nahezu alles Opfer der alliierte Blockade" gewesen seien (352), überrascht als Zurechnung insofern, als die Ernährungsmängel in der Bevölkerung, um die es hier ursächlich im Wesentlichen geht, auf einem differenzierteren Ursachengeflecht beruhten (vergleiche etwa 171: der Hunger sei zu großen Teilen "hausgemacht" gewesen).
Bei aller Kritik wird man das Buch jedoch auch mit manchem Gewinn lesen. Es handelt sich jederzeit um eine erfrischende Lektüre. Es ist eben kein Hand-, eher dann schon ein Lesebuch, keine Gesamtdarstellung, aber eine engagierte, mitunter etwas weitschweifige, stets urteilsfreudige Sicht auf den Weltkrieg, die nicht unbedingt die aktuellen Trends der Forschungen widerspiegelt, an manchen ihrer Wertungen wohl auch starke Zweifel hinterlässt, aber doch auch zum Weiterdenken anzuregen vermag.
Mit der "Enzyklopädie Erster Weltkrieg", herausgegeben von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz, liegt seit neuestem ein Werk vor, das sich künftig, soviel wird man heute schon sagen können, als unverzichtbares Hilfsmittel für Forschung und Lehre erweisen wird. Es vereint 26 längere Überblicksartikel zu den wichtigsten kriegsführenden Staaten, zu sozialen, ökonomischen und kulturellen Teilaspekten der "Gesellschaft im Krieg", zum Kriegsverlauf und zur Geschichtsschreibung mit einem lexikalischen Teil, der über 650 Stichworte in knappen Artikeln behandelt und dabei Auskunft über eine Vielzahl von Personen, Begriffen, Ereignissen und Kriegsschauplätzen gibt. Die Enzyklopädie ist international angelegt, gerade einige der Überblicksbeiträge mit international vergleichender Querschnittsperspektive gehören zu den Glanzstücken des Werkes. Die Autoren sind ausgewiesene Kenner, insgesamt 146 aus immerhin 15 Nationen, der Großteil freilich aus Deutschland.
In den Artikeln, die den einzelnen kriegsführenden Staaten gewidmet sind, stehen zumeist die militärischen, kriegspolitischen und parlamentarischen Ereignisse im Mittelpunkt, freilich ohne dass ein strenges thematisches Schnittmuster vorgegeben wäre. Der Artikel von Jay Winter über Großbritannien, der sich unter anderem mit der demografischen Entwicklung befasst, fällt etwas aus dem Rahmen. Erinnert wird an die in komparativer Perspektive bemerkenswerten, weil zum sonstigen Trend gegenläufigen Befunde aus früheren Forschungen des Autors, nach denen die Kindersterblichkeit in Großbritannien während des Krieges zurückging und sich für die zivile Bevölkerung eine Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung abzeichnete. Die Gründe lagen in einer kriegsbedingt ausgeglicheneren Verteilung der Lebensmittel, von der besonders vormals benachteiligte Schichten profitierten. Großbritannien, wurde durch den Krieg "gleichsam eine gesündere Gesellschaft" (54). Ansonsten sei hier nur noch Jean-Jacques Beckers Artikel über Frankreich erwähnt, als ein Beispiel dafür, dass sich bei der Lektüre aufgrund der Parallelität der Problemlagen unentwegt interessante Querbezüge ergeben, die der Leser allerdings selbst herstellen muss. So musste die französische Heeresleitung, wie Becker zeigt, im Machtkampf mit Regierung und Parlament auf Dauer zurückstecken, nachdem es zunächst durchaus eher nach einer "Diktatur des Oberkommandos" ausgesehen hatte (34). Die Kontrastbezüge zum Deutschen Reich liegen auf der Hand.
Die unter der Überschrift "Gesellschaft im Krieg" zusammengefassten Querschnittsartikel zur Geschichte der Frauen, der Kinder und Jugendlichen, der Arbeiterschaft et cetera sind von vornherein vergleichend angelegt. Benjamin Ziemanns Beitrag zu den Soldaten eröffnet die Perspektiven einer modernen Militärgeschichte, die sich für die Verhaltensmuster, die Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen oder auch die Sinnstiftungsversuche der einfachen Soldaten interessiert. Der Artikel zur Rolle der "Wissenschaftler" im Krieg befasst sich mit den ideellen Schlachten, in die sich Professoren aus allen kriegsführenden Lagern stürzten, um durch Aufrufe, Vorträge und Kundgebungen einen Beitrag zur nationalen Kriegslegitimation zu leisten. Der Anteil, den die Wissenschaftler als Forscher am materiellen Funktionieren der Kriegsmaschinerie hatten, wird nicht behandelt. Mustergültig ist der alle großen kriegsführenden Staaten gleichmäßig abdeckende Artikel zur Kriegswirtschaft aus der Feder von Hans-Peter Ullmann, der einen vorzüglichen Überblick über die zentralen kriegswirtschaftlichen Problemlagen gibt. Etwas ab fällt demgegenüber der im Wesentlichen auf Deutschland beschränkte Artikel zur Medizin, der über die Feldlazarette, die Krankenpflege an der Front oder die Schwierigkeiten der zivilen Krankenversorgung im Heimatbereich kaum etwas berichtet, sich streckenweise aber ausgedehnt mit - zugegebenermaßen aufschlussreichen - Details befasst.
Im Rahmen der Beiträge, die der Kriegsführung gewidmet sind, skizziert Stig Förster auf wenigen Seiten die Ausweitung von Krieg und Kriegsbeteiligung auf alle fünf Kontinente. Das geschah durch die Einbeziehung von Kolonien, Dominions und Verbündeten oder auch durch den Versuch einzelner Staaten, im Zuge des weltweiten Konflikts eigene territoriale Rechnungen zu begleichen. Oder es verhielt sich so wie bei den meisten lateinamerikanischen Staaten, die im Schlepptau der USA in den Krieg eintraten. Wichtig ist der Artikel über Kriegsrecht und Kriegsverbrechen von Alan Kramer, der eine Thematik behandelt, über die während des Krieges und danach zahlreiche Unklarheiten bestanden, wozu die Propagandatätigkeit der Kriegsmächte das Ihre beigetragen hat. Einen prägnanten Überblick über die Kriegsführung der Mittelmächte, das sei hier wenigstens noch erwähnt, liefert der letzte Beitrag, den wir dem verstorbenen Militärhistoriker Wilhelm Deist zu verdanken haben.
Mit den genannten Beispielen sind nur einige Ausschnitte aus dem eindrucksvollen Panorama angesprochen, das die Enzyklopädie entfaltet. Nahezu alle Beiträge bewegen sich auf hohem Niveau. Sie unterscheiden sich in Perspektiven und Zugriffsweisen, sind einmal vor allem informativ angelegt (zum Beispiel Klaus Schwabe zum Waffenstillstand und den Friedensschlüssen), ein andermal wieder sehr interpretationsfreudig verfasst (zum Beispiel Michael Jeismann zur Propaganda). Was den lexikalischen Teil angeht, wird, wie immer, der eine diesen Aspekt zu lang, der andere jenen zu kurz behandelt finden, vielleicht auch einzelne Stichwörter vermissen, andere für überflüssig halten. Aber solche Kritik würde der sehr ausgewogenen und aspektreichen Konzeption kaum gerecht werden. Man kann der redaktionellen Leistung auch hier nur Respekt zollen. Mit der Enzyklopädie hat man beides in der Hand: ein Überblicks- wie ein Nachschlagewerk von außerordentlichem Nutzen und hoher Qualität.
Anmerkungen:
[1] Roger Chickering: Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 2002.
[2] Christoph Jahr: Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914-1918, Göttingen 1998.
[3] Wolfgang J. Mommsen: Das deutsche Kaiserreich als System umgangener Entscheidungen [1978], in: Ders.: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur im deutschen Kaiserreich, Frankfurt am Main 1990, 11-38.
[4] Niall Ferguson: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999.
Wilfried Rudloff