Anja Belemann-Smit: Wenn schnöde Wollust dich erfüllt ... Geschlechtsspezifische Aspekte in der Anti-Onanie-Debatte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, 233 S., ISBN 978-3-631-50429-1, EUR 37,80
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Ergriff in den vergangenen Jahrzehnten einen Historiker Interesse an "schnöder Wollust", so musste er vielfach mit Ablehnung oder Ignoranz seiner Kollegen rechnen. Diese sexualitätsverneinende Lehrmeinung war auch in anderen akademischen Fächern (beispielsweise der Psychologie oder Politikwissenschaft) weit verbreitet. Mittlerweile hat sich hier ein grundlegender Wandel vollzogen. Dies wurde durch zwei parallel verlaufende, heute bereits teilweise abgeschlossene Entwicklungen ermöglicht. Hierbei handelte es sich zum einen um die breite Rezeption der einschlägigen theoretischen Literatur aus dem französischen oder angelsächsischen Sprachraum. Zum anderen publizierten die Protagonisten der Geschlechtergeschichte in Deutschland eine lange Reihe von Einführungsbüchern, Tagungsbänden und Aufsätzen, in denen sie ganze Epochen grundlegend bearbeiteten. Auf diese Grundlagenforschung folgten themenbezogene und / oder kürzeren Zeitabschnitten gewidmete Spezialstudien, die sich bisweilen auch kritisch mit den früheren Arbeiten beziehungsweise Methodiken auseinandersetzten. [1]
In diesem Umfeld ist die Arbeit von Anja Belemann-Smit zu verorten. Die Autorin gewährt in ihrer Studie einen Einblick in die bisherige Forschung und verbindet schrittweise die hieraus gewonnenen Aspekte mit ihren eigenen neuartigen Untersuchungen. Auf diese Weise ergibt sich ein schichtenförmiger Aufbau des Buches, der es dem ein wenig vorgebildeten Leser erlaubt, die Entwicklung und Ausbildung geschlechtsspezifischer Aspekte in der Anti-Onanie-Debatte nachzuvollziehen. Nachdem der Leser über die Schilderung von Forschungsdebatten und die um 1770 einsetzende Differenzialbeurteilung von weiblichem und männlichem Körper an den Themenkomplex herangeführt wurde, schildert Belemann-Smit recht knapp die unterschiedlichen medizinischen Theorien zur Onanie. In Kenntnis dieser Überlegungen vermag der Leser die nun beschriebenen Anti-Onanie-Konzepte der Pädagogik nachzuvollziehen. Die philanthropisch orientierten Pädagogen wandten sich direkt über "Aufklärungsromane" an die aus ihrer Sicht gefährdeten Jugendlichen und überfluteten sie mit Schauergeschichten über die Folgen der Masturbation. Die Autorin schildert zunächst die Strukturen und Intentionen der Romane insgesamt, um anschließend besonders prägnante Produkte der Aufklärungsliteratur zu präsentieren. Der von ihr prognostizierte Wandel der Körper- und Geschlechterbilder und der damit verbundenen Differenzialdiagnose zwischen "weiblicher" und "männlicher" Sexualität lässt sich klar nachvollziehen. Eine wichtige Rolle in der repressiven Sexualpädagogik spielte die Vermengung philanthropischer Ansprüche und medizinischer Kenntnisse, beide Seiten ergänzten sich in der Pathologisierung der Onanie.
Leider hat Belemann-Smit es unterlassen, auf die zur gleichen Zeit innerhalb der Medizin ablaufenden Diskussionen einzugehen. Hier sei vor allem auf den gerade am Ende des 18. Jahrhunderts erneut anschwellenden Streit zwischen Mechanisten und Vitalisten verwiesen. Gleichwohl gelingt es Belemann-Smit, die von ihr im Titel angekündigte Beschreibung geschlechtsspezifischer Aspekte in der Anti-Onanie-Debatte herauszuarbeiten. Die gesamte, auf der Ausbildung von geschlechtsspezifischen Unterschieden basierende Abstinenzpädagogik dauerte, wie die Autorin verdeutlicht, nur etwa 40 Jahre an (1770-1810). Mit dem letzten, bedeutenden Roman dieser Kurzepoche schließt Belemann-Smit ihre Studie ab und beschränkt sich auf eine abschließende Zusammenfassung der gewonnenen Erkenntnisse.
Auf einen Ausblick in Richtung weiterer geschlechtsspezifischer Sexual-Debatten im 19. Jahrhundert verzichtet die Autorin bedauerlicherweise. So ist die Studie zwar als nutzbringend und höchst interessant zu bezeichnen, aber sie steht auch etwas abgehoben und alleine da. Es liegt an nachfolgenden Forscherinnen und Forschern, ob sie die noch bestehenden Lücken in der Erforschung geschlechtsspezifischer Aspekte im historischen Sexualdiskurs als Forschungsanreiz für interdisziplinäre Studien begreifen. Belemann-Smit vermag nicht nur in der Aufbereitung Vorgaben zu geben, sondern auch bezüglich der straffen Darstellung. Die beschriebenen Mängel sind zu verzeihen, da sie durch die im Ganzen vorzügliche Heranführungsweise der Autorin an die unterschiedlichen Aspekte ihrer Studie ausgeglichen werden. Angesichts der Vielfalt der beschriebenen Aspekte wäre ein Index hilfreich gewesen. Ob der Preis des Bandes angemessen ist, wäre zu diskutieren.
Anmerkung:
[1] Vergleiche hinsichtlich der Masturbationsdebatte Karl Braun: Die Krankheit Onania. Körperangst und die Anfänge moderner Sexualität im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1995.
Florian Mildenberger