Georg Köglmeier: Die zentralen Rätegremien in Bayern 1918/19. Legitimation - Organisation - Funktion (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte; Bd. 135), München: C.H.Beck 2001, 564 S., ISBN 978-3-406-10716-0, EUR 42,00
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Wer das Chaos der Münchner Revolutionstage verstehen will, konnte bislang vor allem auf Oskar Maria Grafs Bekenntnisbuch "Wir sind Gefangene" zurückgreifen. In einer Art stream of consciousness zeigt Graf, wie die Münchner 1918/19 zuerst zu "Revoluzzern" und dann - mit Erich Mühsam zu reden - wieder zu "Lampenputzern" wurden: "Gleich trieb es mich auf die Straße. In der Stadt herrschte eine eigentümliche aufgewühlte Ruhe, die erst recht nervös machte. Wir rannten ziemlich kopflos herum (...) Vor dem Gewerkschaftshaus stand ein Menschenhaufen und redete murmelnd durcheinander. Es hieß, die Garnison München sei für Eisner und schlage alles nieder. Andere wieder erzählten, das Leibregiment und die Pioniere seien auf Seite der Putschisten. Waffen! Waffen! schrien einige."
Ordnung in das Chaos dieser Tage zu bringen versucht Georg Köglmeier in seiner Regensburger Dissertationsschrift über die Rätegremien in Bayern. Er stützt sich hierbei auf die Quellen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs und auf eine breite Literaturbasis, aus der Eberhard Kolbs Arbeiten zur Revolution von 1918/19 noch immer herausragen. Im Gegensatz zum Schriftsteller Graf interessiert Köglmeier weniger die Psychologie der handelnden Personen (Bernhard Graus beeindruckende Biografie über Kurt Eisner konnte noch nicht verwendet werden), sondern vor allem die Entwicklung, Organisationsstruktur und Funktion der Rätegremien.
Dem revolutionären Chaos eine Struktur zu geben, war schon Eisners Ziel. Bei einer Kundgebung auf der Theresienwiese kündigte er die Revolution für den 7. November 1918 an und stellte sie auch nach dem Kasernensturm als ein geplantes Unternehmen dar: "Es war in allen Einzelheiten vorbedacht." Tatsächlich jedoch entsprang die Schaffung des ersten Münchner Soldatenrates eher dem Zufall, wie ein von Kögelmeier erwähnter Augenzeuge des 7. Novembers berichtet (42). Die Studie wirft zudem neues Licht auf die lawinenartige Ausbreitung der Rätegremien in den Novembertagen von 1918, und sie geht akribisch ihren wechselnden Zusammensetzungen in den verschiedenen Phasen zwischen November 1918 und April 1919 nach: in der Zeit der provisorischen Regierung, nach der zweiten Münchner Revolution und während der kommunistischen Räterepublik.
Von Anfang an befanden sich die Gremien in ständiger Bewegung. In der Phase der provisorischen Regierung besaßen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte wohl den größten Einfluss. Als sich die zweite Räterepublik bildete, hatte die Revolution schon einen Teil ihrer Kinder gefressen: "Bezeichnend für diese Räteregierung ist", so kommentiert Köglmeier die große personelle Diskontinuität, "dass einige ihrer führenden Vertreter erst in einem späteren Stadium der Entwicklung der Revolution in Bayern dazustießen und in das seit November 1918 gewachsene Rätesystem gar nicht eingebunden waren." (403) Doch auch diese neuen Kräfte schufen kein festes Muster für Organisation und Funktion - es wurde weiterhin nach den "Bedürfnissen des Augenblicks" gehandelt.
Wie aber sah die Personalstruktur der Rätegremien im einzelnen aus? Antworten auf diese Frage finden sich im beeindruckenden Anhang von Köglmeiers Studie, in dem auf über 100 Seiten - mit ausgezeichneten Grafiken und Schaubildern - die Zusammensetzung der Gremien entschlüsselt wird. Köglmeier hat hierzu eine Gruppe von 388 Personen untersucht, deren Frauenanteil 2,8 Prozent betrug, darunter unter anderen Luise Kieselbach, die von der Stadt München später mit einem eigenen Platz geehrt wurde. Über Religionszugehörigkeit sagt diese Statistik mit gutem Grund nichts aus, erspart sie einem doch so einen neuen Beitrag zu der alten Debatte um den Anteil jüdischer Mitglieder (die selten in einem religiösen Sinne jüdisch waren) in den Rätegremien.
Interessant sind die Statistiken auch insofern, als die dominanteste Alterskohorte der Räte zwischen 1881 und 1890 geboren worden war. Das Durchschnittsalter der Räte lag demnach bei 40 Jahren. Gemessen an den 15 Jahre älteren Mitgliedern des Bayerischen Landtages verkörperten sie also die "junge Generation", die ihre Altvorderen auf die Straße gesetzt hatte. Zu diesen "Jungen" gehörte auch der 1894 geborene Oskar Maria Graf. Sein "Gefangenen"-Roman wurde unter anderen von Thomas Mann, einem anderen "Münchner" Zeitgenossen jener Tage, hochgelobt. Was Grafs Buch bis heute zu einer mentalitätsgeschichtlichen Fundgrube macht, bietet Köglmeiers Untersuchung nun für die organisationsgeschichtlichen Aspekte der Revolution. Wie vor ihm der Schriftsteller hat der Historiker versucht, das Chaos jener Tage - aus einer anderen Perspektive - zu ordnen. Das dabei entstandene Gesamtbild kann sich durchaus sehen lassen.
Anmerkungen:
[1] Oskar Maria Graf, Wir sind Gefangene, München 1978 (Erstausgabe 1927), 440.
[2] Bernhard Grau, Kurt Eisner. 1867-1919. Eine Biographie, München 2001.
Karina Urbach