Robert Darnton: Poesie und Polizei. Öffentliche Meinung und Kommunikationsnetzwerke im Paris des 18. Jahrhunderts. Aus dem Amerikanischen von Burkhardt Wolf (= edition suhrkamp), Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2002, 171 S., ISBN 978-3-518-12231-0, EUR 9,00
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Wer auf Grund des Titels des hier zu besprechenden Bändchens eine umfassende Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Kommunikationsformen, ja gar der "öffentlichen Meinung" in der französischen Metropole im "dix-huitième" erwartet, wird enttäuscht und bleibt weiter auf die Klassiker aus der Feder von Keith Michael Baker und vor allem Arlette Farge angewiesen. [1] Darnton legt vielmehr eine Kombination zweier miteinander verschränkter Mikrogeschichten aus der Zeit um 1750 vor. Den Kern der Untersuchung bilden Polizeiunterlagen zur Zirkulation eines satirischen Gedichtes über Madame de Pompadour (1749, so genannte "Affäre der 14") sowie zur Verbreitung von kritischen Liedern gegen die von der Krone verfügte Ausweisung des englischen Thronprätendenten Edward (1748). Auf Grund der Dokumente im Polizeiarchiv rekonstruiert Darnton akribisch den Weg der Texte in Paris, ihre Verbreiter, die eingetretenen Veränderungen im Text sowie die Verbreitungskontexte in Kaffeehäusern und öffentlichen Gärten, wo man sich zu Debatten über das Tagesgeschehen traf. Dabei kann Darnton einige interessante Details und Belege für Thesen liefern, die in den Grundzügen schon bekannt sind, etwa hinsichtlich der Überschreitung sozialer Grenzen, der Verschleifung von Texten und der Bedeutung der oralen Kultur (zum Beispiel 33, 96-99).
Der Clou an Darntons Darstellung ist die Verbindung der "Affäre der 14" mit einem Machtkampf zweier Hofparteien in Versailles. Der langjährige Minister Ludwigs XV., Maurepas, habe versucht, durch gezielte Streuung kritischer Gedichte gegen die Pompadour Druck auf den König auszuüben. Sein Ziel habe darin bestanden, den König um sein Image fürchten zu lassen und damit zu bewegen, die Mätresse und ihre Partei aus dem Zentrum der Macht zu entfernen. Allerdings schlug diese Strategie fehl, denn Maurepas kam schnell als Urheber der Verse in Verdacht und wurde selbst verbannt. Die Polizei konnte den Sachverhalt aber nie eindeutig aufklären, da das Gedicht sich in Paris derart schnell verbreitet hatte, dass sein Ursprung nicht mehr festzustellen war (44-61). Zwar beruht Darntons Darstellung auf Indizien, doch sind diese überzeugend. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Hofpolitik die "öffentliche Meinung" als taktischen Faktor einband.
Jedoch schießt Darnton wohl über das Ziel hinaus, wenn er vermutet, die grundlegende Neuordnung des Machtgefüges am Versailler Hof sei "durch Lieder und Gedichte" hervorgerufen worden (49). Dass diese Anlässe boten und als Beschleuniger in den Kämpfen der Faktionen wirkten, ist einleuchtend. Doch die tieferen Ursachen für Erfolg und Misserfolg einer Hofpartei können nur ergründet werden, wenn man sich intensiv mit den Machtverhältnissen am Hof beschäftigt, der als ein vielschichtiger Marktplatz von Klientel- und Patronagebeziehungen gedacht werden muss. Daher verwundert es kaum, dass der Hof kein "geschlossenes Machtsystem" darstellte (61). Darnton fügt jedoch die Zirkulation von Gedichten und Liedern als weiteren Pinselstrich in das Bild von den "Außenbeziehungen" des Hofes ein. Allerdings hat die Forschung über Chansons und Vaudevilles hinter einigen Texten schon immer höfische Autoren vermutet und sich bemüht, dies anhand textkritischer Methoden zu belegen - ein Verfahren, ohne das auch Darnton nicht auskommt.
Problematisch ist der im letzten Viertel des Textes unternommene Brückenschlag zwischen der "Affäre der 14" beziehungsweise den Spottliedern gegen die Ausweisung Edwards und der vorrevolutionären politischen Öffentlichkeit. Zurecht setzt Darnton die öffentliche Meinung der Kaffeehäuser in Kontrast zum normativen Öffentlichkeitskonzept der Aufklärer - was die Arbeiten von Arlette Farge und anderen bereits ausführlich beschrieben haben. Wie diese öffentliche Meinung aber beschaffen war und mit der Politik der Krone interagierte, wird nur angedeutet. Im Kontext der "Affäre" etwa betont Darnton, dass kein Beteiligter einen politischen Umsturz im Sinn hatte. Eine Antwort auf die Frage, wie dieses umstürzlerische Element bis 1789 in die Debatten und Kaffeehausgespräche gelangte, bleibt Darnton schuldig. So steht man etwas ratlos vor den abschließenden Bemerkungen: "Im Paris des 18. Jahrhunderts konturierte sich eine Öffentlichkeit, die für das Ancien Régime eigentümlich war, und überzog seither jedes Ereignis mit ihrer Meinung" - obwohl die Existenz dieser einen Meinung an anderen Stellen bestritten wurde (36, 100). "Sie war eine Kraft, die aus der Straße hervorquoll [...] und vierzig Jahre später nicht mehr aufzuhalten war, als sie alles, was ihr in die Quere kam, einfach hinwegfegte" (Zitat 147, ähnlich bereits 9). Nimmt man die Aussage ernst, kann diese Öffentlichkeit ja kaum für das Ancien Régime "eigentümlich" gewesen sein.
Darntons Begriff der Kommunikation ist pragmatisch und verknüpft mit der Vorstellung eines Zirkulierens von Texten, Worten, Papieren zwischen verschiedenen Orten und Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft, die ein Netzwerk der Kommunikation bilden. Er geht davon aus, dass die Inhalte des Kommunizierten sich in neuen Kontexten ändern. Darnton legt großen Wert auf die Feststellung, dass man auf Grund der Quellenlage nur winzige Ausschnitte aus diesen Prozessen zu sehen bekommt. Umso überraschender ist die Gewissheit des Autors, in Paris habe "schon lange vor dem Internet" eine "Informationsgesellschaft" existiert (132). In dem Bemühen, einen aktuell klingenden Begriff für die Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit zu reklamieren, übersieht Darnton einen wesentlichen Unterschied zur Gegenwart. Das Problem der aktuellen Informationsgesellschaft ist die Informationsflut. Die Zeitgenossen im 18. Jahrhundert bis hin zu polizeilichen und staatlichen Stellen erlebten dagegen einen Informationsmangel, der denn auch die Struktur der Kaffeehausgespräche bestimmte - auch dies ist schon mehrfach in der Literatur beschrieben worden.
Die Darstellung ist sehr quellennah gehalten; ein nicht unbeträchtlicher Anteil des Textes besteht aus kurzen und langen Originalzitaten samt Übersetzung und einem umfangreichen Anhang, in dem alle Lieder und Gedichte noch einmal in ihren unterschiedlichen Versionen abgedruckt sind. Dagegen vermisst man über weite Strecken eine Auseinandersetzung mit der reichhaltig vorhandenen Forschungsliteratur. Darntons Buch ist brillant geschrieben und unterhaltsam. Es gelingt dem Autor auch, die Atmosphäre der Kommunikationssituation im Paris der Frühen Neuzeit zu evozieren. Es fragt sich allerdings, für welches Zielpublikum der Band gedacht ist. Spezialisten finden nur wenig neue Informationen und Interpretationen. Als Überblick oder Einstieg für studentische Leser ist es jedoch auch nicht geeignet.
Anmerkung:
[1] Arlette Farge: Dire et mal dire. L'opinion publique au XVIIIe siècle, Paris 1992; Keith Michael Baker (Hg.): The Political Culture of the Old Regime, Oxford 1987.
Jens Ivo Engels