Roland Galle / Rudolf Behrens (Hgg.): Konfigurationen der Macht in der Frühen Neuzeit (= Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Bd. 6), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2000, XII + 356 S., ISBN 978-3-8253-1008-0, EUR 46,00
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Von einem kulturwissenschaftlichen Standpunkt aus ist es nicht selbstverständlich, literarischen Zeugnissen eine privilegierte Stellung im Ensemble der Kulturprodukte zuzusprechen. Ohne so unkulturalistische Zusatzannahmen wie die eines "Surplus der ästhetischen Erfahrung" [1] drohen Literatur und Künste in einem allgemeinen Horizont so genannter Lebensformen, sozialer Praktiken, geistiger Haltungen und symbolischer Sinnsysteme aufzugehen. Der Text ist, nicht anders als sein Kontext, ein Substrat für "Diskursformationen".
Dennoch gehören Ansätze wie der der historischen Anthropologie zu den bevorzugten methodischen Orientierungen der derzeitigen Literaturwissenschaft. Mit neuer Methode verspricht selbst das alte Thema der Macht - nach marxistischer Ideologiekritik, Foucault'scher Diskursanalyse und neohistoristischem "empowerment" - noch Platz für frische Einsichten. Es wird sogar akzeptiert, wenn man für diese Themenwahl eine überkommene Begründung liefert und den Wahlspruch von der Auflösung feudalistisch abgesicherter Machtverhältnisse, von der Neustrukturierung der Herrschaftsformen, kurz: vom Beginn der politischen Moderne in der Frühen Neuzeit einmal mehr bekräftigt (VII).
Gleichwohl rücken die "Konfigurationen der Macht", in denen die Romanisten Roland Galle und Rudolf Behrens dreizehn literaturwissenschaftliche Beiträge aus verschiedenen neuphilologischen Fächern (Romanistik, Anglistik, Germanistik) versammeln, eine Frage in den Blick, der bislang eher punktuell nachgegangen wurde: Inwieweit bildet die Literatur der Frühen Neuzeit politische und gesellschaftliche Machtstrukturen nicht lediglich mimetisch ab, sondern greift selbst in den Prozess der Stabilisierung und Destabilisierung von Macht ein (VII f.)? Es war dieser Aspekt der "Ermächtigung des Literarischen", der im Mittelpunkt eines Kolloquiums an der Universität Essen vor nunmehr acht Jahren stand. Aus diesem Kolloquium ist der Band hervorgegangen.
Mit dieser Fragestellung scheint ein gemeinsamer Tenor vorgegeben. Tatsächlich birgt der Band allerdings eine schwer zu bändigende Heterogenität. Gleichsam kompensatorisch versuchen Galle und Behrens im Vorwort eine topografische Anordnung der Beiträge in einem "Koordinatenkreuz" (IX) bestimmter begrifflicher Gegensatzpaare (Macht versus Gewalt, symbolisch versus rational begründete Macht) sowie in einer Matrix aus vier einschlägigen "Problemfeldern" (Thema der Verschwörung, Machtinszenierung und Gattungszugehörigkeit, Rhetorik und Moralistik, Macht und epistemologische Paradigmen). Die Einzelergebnisse des Bandes auf diese Weise kanalisiert zu haben ist durchaus anerkennenswert.
Ob man sich dabei noch an Autoren wie Friedrich Meinecke und Ernst Kantorowicz orientieren muss (VIII) oder ob mit den Machttheorien von Foucault, Luhmann, Habermas oder auch Stephen Greenblatt nicht aktuellere, für die literaturhistorische Praxis allemal fruchtbare Vorlagen zur Verfügung stehen, sei dahingestellt. Dass aber die genannten Gegensatzpaare und Problemfelder mit so unvermittelter Geste aufgeführt werden, als seien sie an den Aufsätzen mühelos ablesbar, ist didaktisch mindestens ungeschickt, methodisch schlichtweg verharmlosend. Hätten sich die Herausgeber hinsichtlich ihrer Auswahlkriterien und Filterstrategien genauer erklärt oder auch einfach nur durchgängig angezeigt, auf welchen Beitrag sie sich jeweils beziehen, so hätten sie ihre Ausführungen doch weitaus plausibler gemacht. Die explanatorische Sparsamkeit ist symptomatisch für das knapp geratene Vorwort. Galle und Behrens sprechen nicht ad lectorem, noch liefern sie einen einladenden Überblick über die nachfolgenden Texte. So bleibt nur die Empfehlung, das Vorwort - wenn überhaupt - erst nach den Beiträgen zu lesen.
Ohne dass hier alle Aufsätze im Einzelnen vorgestellt werden können, lässt sich festhalten, dass sie fast durchweg qualitätsvoll, anregend und originell sind und zudem ein überaus breites Spektrum von Aspekten (staatstheoretische, theologische, ästhetische, subjekttheoretische, moralistische, naturphilosophische, gattungsspezifische und so weiter) abdecken. So zeichnet Ruth Groh mit treffsicheren Strichen ein eindringliches Bild des Macht-Aufdeckungs- und -Entlarvungsprojekts, das Carl Schmitt am "Leviathan" des Thomas Hobbes zu exerzieren vorgibt - und das selbst hochgradig entlarvungsbedürftig ist.
Helmut Pfeiffer thematisiert anhand von Machiavellis Discorsi und Shakespeares Drama "Richard II." die "Macht der Verschwörung". Die Textanalysen geraten Pfeiffer zwar kleinschrittig und umfänglich. Doch ist der Aufsatz schon allein wegen eines stringenten theoretischen Teils (18-23), in dem der Verfasser Idealtypen und zentrale Momente von Verschwörungsdarstellungen anführt sowie Gründe für deren Attraktivität in der Literatur der Frühen Neuzeit benennt, insgesamt ein Gewinn für den Band. Zwei weitere Beitragende wählen ihn denn auch zum Referenzpunkt ihrer eigenen Reflexionen (Beitrag Maurer, Beitrag Lobsien).
Systematisch weitaus gehaltvoller untersucht Eckhard Lobsien die ästhetische Dimension der Macht in Shakespeares "Richard II.". Als einer der wenigen Autoren des Bandes umreißt Lobsien eigene Ansätze zu einer Theoretisierung des Machtthemas und definiert 'Ermächtigung' als "Vereindeutigung von Zeichen und Zeichenkomplexen" (77). Diesen umfassenden, zeichentheoretischen Machtbegriff vorausgesetzt, können sowohl reale Handlungen als auch mentale Operationen (die Verstehensprozesse der Zuschauer, die Fantasien Richards) und eben auch literarische Inszenierungen zu Akten der Machtaneignung und -ausübung geraten (77, 81). Ob sich ein derart aufgeweichter Machtbegriff sinnvoll durchhalten lässt, kann hier nicht weiter verhandelt werden.
Was Behrens und Galle im Vorwort jedoch als "Problemstand" (VIII) ansprechen: dass literarische und theatralische Darstellungen der Macht selbst Macht ausüben, wird bei Lobsien nun zur Banalität. Besonders an dieser Stelle rächt es sich, dass das Herausgeberduo sich gegenüber den methodologischen Offerten der Beiträge weitgehend blindgestellt hat. Auch wenn Lobsien am Ende seiner Ausführungen die Modifizierung von Strukturalismus und New Historicism zu einer "Formations- oder Konfigurationsgeschichte" prospektiert (82), bleiben seine Andeutungen die irritierende Herausforderung einer literaturtheoretisch interessierten Lektüre. Insgesamt ist es bedauerlich, dass die Leser sich die hochspannenden Aussagen dieses mit zehn Seiten kürzesten Beitrags aus aphoristisch anmutenden Äußerungskonzentraten mühsam entfalten müssen.
Bernhard Teuber legt eine ebenso pointierte wie kurzweilige Analyse dreier Apologien Montaignes ("De la force de l'imagination", "Apologie de Raimond Sebond", "De la phisionomie") vor, die er als rhetorische Inszenierungen einer Selbstentmächtigung und Dekonstitution des Subjektes liest. Dementsprechend plädiert Teuber für eine "dekonstruktive", nicht - wie bei Foucault und im New Historicism - um den Begriff der Selbstkonstitution zentrierte Lektüre von Montaignes Essais (112).
Manfred Hinz liefert einen Kommentar zum Aphorismus 251 aus Graciáns "Oráculo manual". Unter sorgfältigem Rückgriff auf die betreffenden Quellen stellt Hinz den Aphorismus in den Kontext der konfessionsgebundenen Debatten um die so genannte "doppelte Gerechtigkeit" im Vorfeld des Tridentinums und zeigt auf diesem Hintergrund die provokative Spannung Graciáns zur jesuitischen Schulposition auf. Souverän windet Hinz sein Argument noch durch die verwickeltsten theologischen Zusammenhänge hindurch, ohne dass die beigetragenen Informationen je belastend wirkten.
Die beiden abschließenden Beiträge von Louis van Delft und Ulrich Schulz-Buschhaus beschäftigen sich mit dem Thema der Macht im Kontext der Moralistik. Van Delft stellt eine originelle Analogie her zwischen "ars memorativa", Rhetorik und Anatomie, bei der die schneidende Schärfe der moralistischen Aphoristik der "Rhetorik" des anatomischen Theaters als einer Repräsentation des "memento mori" gegenüber steht. An italienischen und französischen Konversationsschriften weist Schulz-Buschhaus nach, wie die "civil conversazione" oft subtextuell als ein Kampf der Interaktionspartner um Rededominanz figuriert wird.
Die thematische Spannbreite und die erhebliche Divergenz der Herangehensweisen in den einzelnen Beiträgen - von der gewissenhaften Aufbereitung der historischen Quellen bis hin zur Deklaration literaturtheoretischer Neuerungen - lassen die Lektüre des Bandes auch dort bereichernd sein, wo sie in Maßen beschwerlich ist. Einige Beitragende opfern allerdings die Klarheit ihrer Ausführungen einer derart übersteigerten Ambition eigener stilistischer Raffinesse, dass sie noch dem eloquenzfreudigsten Rezipienten den Zugang zu den oft scharfsinnigen Analysen verstellen. Dezidiert negativ wirkt sich die Entscheidung der Herausgeber aus, auf eine ausführliche Einleitung zu Gunsten eines allzu konzisen Vorworts zu verzichten.
Anmerkung:
[1] Rudolf Behrens / Roland Galle (Hg.): Historische Anthropologie und Literatur. Romanistische Beiträge zu einem neuen Paradigma der Literaturwissenschaft, Würzburg 1995, 9.
Karin Hartbecke