Constantin Goschler / Philipp Ther (Hgg.): Raub und Restitution. 'Arisierung' und Rückerstattung des jüdischen Eigentums in Europa, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, 245 S., ISBN 978-3-596-15738-9, EUR 13,90
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Dass der wirtschaftlichen Ausgrenzung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung in der Geschichte des Holocaust eine zentrale Bedeutung zukommt, schlägt sich erst seit einigen Jahren verstärkt in der Forschungsliteratur nieder. Die Versuche, diesen gigantischen Umverteilungsprozess wenigstens partiell zu revidieren, waren bis vor kurzem sogar ein absolutes Randgebiet der Geschichtsschreibung. Mittlerweile hat nicht nur die auf Deutschland und Österreich konzentrierte Forschung zu beiden Themen einen bemerkenswerten Aufschwung erfahren. Arbeiten zu anderen europäischen Ländern erlauben zumindest ansatzweise die Erweiterung des Blicks auf eine doppelte "entgrenzte Geschichte" (9). Die einleitenden Überlegungen der Herausgeber machen nicht zuletzt deutlich, wie groß das Potenzial komparativer und transnationaler Analysen auf den beiden eng verknüpften Forschungsfeldern ist.
Das gilt insbesondere für das Verhältnis von politischen Vorgaben des NS-Regimes und deren konkreter Umsetzung auf der lokalen Ebene. Martin Dean eröffnet den ersten Hauptteil des Bandes mit einer Skizze der unterschiedlichen Methoden, institutionellen Konflikte und chronologischen Zusammenhänge der Beraubung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Ost- und Westeuropas, die in den letzten Jahren intensiv untersucht wurden. In der Zusammenschau stellen jedoch gerade die umfangreichen neuen Detailerkenntnisse der jüngsten Forschung keine abschließenden Gesamtergebnisse dar, sondern neue Ausgangspunkte einer stärker komparativ orientierten Holocaustforschung. Diese erste Vergleichsskizze wird in drei weiteren Beiträgen regional ausdifferenziert. Jean-Marc Dreyfus bietet einen systematischen Vergleich der Chronologie, der Akteure und der materiellen "Schlussbilanz der Enteignung" (50) in den Niederlanden, Belgien und Frankreich. Dreyfus begründet das unterschiedlich große Ausmaß der Beraubung, das den unterschiedlich hohen Anteilen der Deportierten an der jüdischen Bevölkerung korrespondierte, plausibel aus den unterschiedlichen Besatzungsregimen und strategischen Besatzungszielen.
Dass die nationalsozialistische "Rassen"-Hierarchie einen weiteren zentralen Ausgangspunkt darstellte, zeigt Dieter Pohls Beitrag über Osteuropa. In Polen und den besetzten sowjetischen Gebieten war der Umgang mit der jüdischen Bevölkerung von vornherein weniger durch juristische Formalien als vielmehr "durch mörderische Gewalt bestimmt" (60). Umgehende Beschlagnahmungen, Zerstörungen und Plünderungen jüdischen Eigentums wurden in den folgenden Besatzungsphasen lediglich perfektioniert; dies entsprach allerdings nicht zuletzt einem geringeren politischen Interesse an der vergleichsweise unterentwickelten Wirtschaftsstruktur der meisten Regionen. Entschieden zu kurz kommen bei Pohl leider die tschechischen Gebiete, obwohl das Sudetenland und das "Protektorat Böhmen und Mähren" von eminenter Bedeutung für die deutsche Raub- und Besatzungswirtschaft waren und sich hervorragend als kontrastierender Vergleichsfall angeboten hätten. Tatjana Tönsmeyers abschließender Beitrag über die Ausraubung der ungarischen, rumänischen und slowakischen Juden spitzt die Perspektive der Beziehungsgeschichte zwischen NS-Regime und ausführenden lokalen Organen auf den Fall größtmöglicher relativer Unabhängigkeit zu. Tönsmeyer weist unter dem Stichwort "Innen- oder Außenpolitik?" (79) auf eine weitere zentrale Deutungsachse hin, nämlich die Interessenlage der jeweiligen Satellitenregime oder, allgemeiner gefasst, der einheimischen nichtjüdischen Eliten. Dadurch wird wiederum deutlich, dass es trotz aller fließenden Übergänge zwischen Enteignung und Ermordung auch die Grenze zwischen beiden nicht zu übersehen gilt, denn die Regierungen der formal autonomen Verbündeten des "Dritten Reichs" trieben zwar eigenständig die Beraubung ihrer jüdischen Bürger voran, reagierten mit den Deportationen jedoch primär auf deutsche Forderungen.
Der zweite Hauptteil beschäftigt sich mit der ganz anders gearteten "Entgrenzung" der Restitutionsproblematik nach 1945. Jürgen Lillteicher zeigt zunächst, wie die mit dem bundesdeutschen Rückerstattungsgesetz von 1957 eingeleitete Ausdehnung der deutschen Rückerstattungspflichten auf in Europa geraubtes Eigentum, das nachweislich ins spätere Bundesgebiet gelangt war, gleich wieder eingeschränkt wurde: Einwohner osteuropäischer Staaten blieben im Kalten Krieg von der Zahlung ihrer grundsätzlich berechtigten Ansprüche ausgeschlossen. Überlebenden westeuropäischen Juden oder ihren Erben kam hingegen auch die Rechts- und Eigentumsordnung des eigenen Landes entgegen. Sowohl in Frankreich (Claire Andrieu) als auch in Belgien (Rudi van Doorslaer) erfolgten bereits in der Nachkriegszeit substanzielle und auch bereitwillige Rückerstattungen oder Entschädigungen. Beide Länder richteten in den 90er-Jahren dennoch Historikerkommissionen ein, die nicht zuletzt der Überprüfung der Rückerstattungspraxis gewidmet waren. Dies war nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie unzureichenden Rückerstattungen geschuldet, sondern wesentlich einer neuen Geschichtspolitik gegenüber dem Holocaust. Van Doorslaer deutet dies eher als Ausdruck kultureller Universalisierungsprozesse, Andrieu hingegen (mit etwas überzogener Vehemenz) nicht primär als Ergebnis amerikanischer "Spektakel"(126), sondern erneuerten innerfranzösischen Interesses. Leider ist der interessante Vergleichsfall der Niederlande in diesem Teil nicht vertreten.
Bis nach Italien scheint sich die neue Geschichtspolitik jedenfalls nur sehr zögerlich zu erstrecken. Ilaria Pavans Beitrag skizziert eine bis in die jüngste Zeit vorherrschende Mentalität der Verdrängung italienischer Beteiligung am Beraubungsprozess, die sich in einer bislang nur rudimentär aufgearbeiteten, widerspenstigen und lückenhaften Restitutionspolitik spiegelte. Noch größere Forschungsdefizite zeigen die Aufsätze zur Tschechoslowakei (Eduard Kubů und Jan Kuklík jun.) und Polen (Dariusz Stoła) auf, wo eine Rückgängigmachung der unter nationalsozialistischer Herrschaft erfolgten Enteignungen von einem neuerlichen Umsturz der Eigentumsordnung, in Polen auch von einer neuen Welle des Antisemitismus verhindert wurde. Eine nur scheinbar sehr spezielle Restitutionsdebatte beleuchtet schließlich Ronald Zweigs Beitrag über den "ungarischen Goldzug", der bei Kriegsende angeblich den gesammelten beweglichen Reichtum der ungarischen Juden außer Landes brachte und fortan zum politischen Zankapfel wurde. Zweigs detektivische Analyse klärt nicht nur auf, warum der legendäre Zug sehr viel geringere Werte enthielt als später vermutet und wie diese Werte im Nachkriegschaos regelrecht zerfielen. Sie dekonstruiert damit auch an einem spektakulären Fallbeispiel den "Mythos vom jüdischen Reichtum" und weist zugleich am eindringlichsten darauf hin, dass der Verlust immaterieller Werte auch durch eine noch so korrekte Restitution von Vermögensgegenständen nicht "wiedergutzumachen" ist.
Viele der Beiträge werfen, so auch das Resümee von Gerald D. Feldman, eher neue Fragen auf, als dass sie abschließende Antworten bieten. Das ist kein Nachteil, sondern ein Vorzug des Bands, denn die Aufsätze bieten sowohl konzise Informationen über den aktuellen Forschungsstand als auch eine Fülle interpretativer Anregungen. Wer sich einen Überblick über zwei ebenso komplexe wie ertragreiche Forschungsfelder verschaffen will, auf denen noch mit einigen spannenden Debatten zu rechnen ist, wird mit diesem Buch bestens bedient.
Ralf Ahrens