Markus Sehlmeyer (Hg.): Origo Gentis Romanae - Die Ursprünge des römischen Volkes (= Texte zur Forschung; Bd. 82), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, 176 S., ISBN 978-3-534-16433-2, EUR 34,90
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Die kleine Schrift über die der Gründung der Stadt vorausgehenden Ursprünge Roms hat in der Vergangenheit im Gefolge der nachwirkenden Verurteilung als Fälschung des 15. Jahrhunderts durch Barthold Georg Niebuhr und der mit der Historisierung des Altertums im 19. Jahrhundert einsetzenden Beurteilung von Quellen unter kritisch-wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die sie eigentlich verdient. Überliefert ist die "Origo gentis Romanae" als erster Teil im "Corpus Aurelianum", gefolgt vom "Liber de viris illustribus urbis Romae", der die Königszeit und die römische Republik umfasst, und schließlich von den "Caesares" des Aurelius Victor, wodurch sich diese Bestandteile zu einem Überblick über die Geschichte Roms von den mythischen Anfängen bis zu Kaiser Constantius II. und seinem Caesar Iulian vereinigen, also den Zeitraum bis etwa 360 nach Christus behandeln. Diese Zusammenfügung ist das Werk eines unbekannten spätantiken Redaktors. Die Teile des Corpus haben unterschiedliche Verfasser, von denen nur der der "Caesares" namentlich bekannt ist.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Forschung verstärkt der "Origo gentis Romanae" zugewandt: Ausgangspunkte hierfür sind die zuletzt 1970 von Roland Gründel revidierte Teubner-Edition Franz Pichlmayrs aus dem Jahre 1911 und die Darstellung des aktuellen Forschungsstandes durch Peter Lebrecht Schmidt 1978. [1] Aus den zahlreichen Einzeluntersuchungen seither sind besonders die Textausgabe von Jean-Claude Richard (Paris 1983) und Hans Jürgen Hillens Werk "Von Aeneas zu Romulus" mit Edition und Übersetzung der "Origo" im Anhang hervorzuheben [2], denen Markus Sehlmeyer nun eine weitere folgen lässt.
Sehlmeyers Textedition richtet sich hauptsächlich nach der Ausgabe von Richard (27) und kommt daher mit einem sparsamen kritischen Apparat aus. Die Übersetzung ist genau und orientiert sich eng an der lateinischen Vorlage, wodurch sie das dem Kommentar und den darüber hinaus führenden Erläuterungen zu Grunde liegende Textverständnis des Herausgebers gut erschließt, das - auch - einem Leser- und Interessentenkreis nahe gebracht werden soll, der zum Erfassen dieser Schrift Hilfestellung benötigt.
Positiv und benutzerfreundlich ist es, dass Sehlmeyer seinen - anders als bei Richard - historisch orientierten Kommentar (53 Seiten für einen lateinischen Text von knapp 17 Seiten) nicht mit Einzelheiten überfrachtet, sondern übergreifende Aspekte ausgliedert und zusammenhängend in der Einleitung sowie in sieben angefügten Essays behandelt. Damit optimiert er die Voraussetzungen für das ganzheitliche Verständnis der Schrift und beschränkt die Kommentierung auf die Einzelerläuterungen, die den in den ausgegliederten Kapiteln behandelten Gesichtspunkten nicht zuzuordnen sind; stattdessen verweist er für bestimmte weiter gehende Informationen auf die Essays. Somit erscheint diese Publikation nach außen nicht allein als kommentierte zweisprachige Edition, sondern vielmehr zugleich als abgerundete Einführung in wesentliche mit der "Origo gentis Romanae" verbundene Probleme auf aktuellem Forschungsstand: Sie erklärt die "Origo", ihre Leistungen und Grenzen und liefert Orientierungen für die Weiterarbeit.
Sehlmeyers Einleitung enthält neben Bemerkungen zur Überlieferung der "Origo gentis Romanae", der Oxforder und der Brüsseler Handschrift aus dem 15. Jahrhundert sowie zur Edition und zu den Kommentierungsgrundlagen einführende Worte über den auffälligen Hiat in der kleinen Schrift und Schlussfolgerungen hieraus bezüglich bestimmter Gattungsmerkmale. Das erste Drittel ist durch zahlreiche Vergil-Zitate gekennzeichnet, was nach Sehlmeyers plausibler These für eine spätantike Bearbeitung durch einen "grammaticus" spricht. Nach einem Übergangsteil, in dem die Vergil-Zitate allmählich abnehmen, tritt eine historisch-antiquarische Darstellung in den Vordergrund, eine chronologische Erzählung mit Angabe von Varianten. Widersprüche und Unschlüssigkeiten erklärt Sehlmeyer durch "Epitomierung einer längeren Schrift" (14) als "typisches Produkt der Blütephase der Breviarien im späteren 4. Jh. n. Chr." (27).
Die mit dieser heterogenen Gestalt der "Origo" einhergehenden Beobachtungen und Schlussfolgerungen bündelt Sehlmeyer in den beiden letzten seiner Edition beigegebenen Essays. Hier vergleicht er die Eingriffe eines Grammatiklehrers in die Textgestalt der Schrift mit Bedürfnissen der Unterrichtspraxis und ordnet sie in die Überlieferung zu Inhalten des Grammatikunterrichts ein (Essay 6). Anschließend stellt er zusammen, welche Intentionen dem Ausgangstext der "Origo gentis Romanae", der wohl in der Zeit des Augustus entstanden sein dürfte, seiner Epitomierung im späten 4. Jahrhundert und der wenig später erfolgten Bearbeitung dieses Exzerpts durch einen "grammaticus" für den Schulbedarf zu Grunde lagen, wodurch die "Origo gentis Romanae" die Gestalt erhielt, in der sie überliefert ist (Essay 7).
Als möglichen Urheber für den Ausgangstext der "Origo" macht Sehlmeyer mit der gebotenen Vorsicht, aber plausibel M. Verrius Flaccus namhaft, den bedeutenden Gelehrten der augusteischen Zeit, in die der Wissensstand des Werkes einzuordnen ist (Essay 1). Spuren einer entsprechenden Tradition lassen sich nämlich über die gesamte Kaiserzeit bis in die Spätantike verfolgen, wie Peter Lebrecht Schmidt in seinem RE-Artikel detailliert nachgewiesen hat. [3]
Vier weitere Essays beschäftigen sich mit dem "Wert" der "Origo gentis Romanae" als Quelle für die Vorzeit Roms und setzen sich in den angesprochenen Teilbereichen zugleich mit der neueren Literatur auseinander. Sehlmeyer stellt fest, dass die bisherigen archäologischen Ergebnisse eine Historizität von Inhalten der "Origo" nicht zu stützen vermögen (Essay 2). Bei Aspekten wie "Anthropologie" (Essay 3) und "Mythologie" (Essay 4) geht es um die Gewichtung von eigenen römischen Vorstellungen und griechischem Einfluss in der "Origo". Römisches und Griechisches fließen vielfach ineinander. Das Werk informiert über die Vorstellungen der Römer zu ihrer eigenen Vorgeschichte, stellt aber keine historische Quelle im eigentlichen Sinne dar. Dasselbe gilt auch für die Äußerungen zur religiösen Praxis in der "Origo" (Essay 5), die zudem deutlich darauf hinweisen, dass der spätantike Text paganer Tradition zuzuordnen ist.
Die mit Kommentar zu Einzelstellen und Essays zu übergreifenden Gesichtspunkten versehene lateinisch-deutsche Edition der "Origo gentis Romanae" von Markus Sehlmeyer setzt gewissermaßen den entsprechenden RE-Artikel von Peter Lebrecht Schmidt unter Einarbeitung der in den seither vergangenen 25 Jahren erschienenen Literatur fort. Zugleich wendet sich diese Publikation nicht nur an Fachleute, sondern bewusst an einen breiteren Rezipientenkreis. Sie skizziert in den Grundzügen die aus Indizien annäherungsweise zu rekonstruierende Entstehungsgeschichte der "Origo". Leistungen und Grenzen der Schrift für Forschungen und Erkenntnisse zur Frühgeschichte Roms werden klar dargelegt.
Dass die Thematik der "Origo" in gewisser Weise wissenschaftlich en vogue ist, zeigt das fast zeitgleich erschienene Buch Hans Jürgen Hillens. Der Blickwinkel auf die "Origo gentis Romanae" ist in dieser Untersuchung allerdings ein anderer als bei Sehlmeyer. Während Hillen bei den Legenden zur Gründung Roms ansetzt und die "Origo" als eine - wichtige - unter mehreren Quellen nutzt, geht Sehlmeyers Interesse vom spätantiken "Corpus Aurelianum" aus, sodass die "Origo" daher im Mittelpunkt seiner Publikation steht: ein Produkt der Spätantike, das die Restaurationsbemühungen der augusteischen Zeit widerspiegelt und aus drei Zeitaltern - den mythischen Anfängen, der Rückbesinnung auf die Ursprünge zur Zeit der Begründung des Prinzipats und dem bewussten Bezug auf die Tradition in der Spätantike angesichts zunehmenden christlichen Einflusses - von römischer Selbstvergewisserung kündet.
Anmerkungen:
[1] P. L. Schmidt: Victor 69: Das Corpus Aurelianum und S. Aurelius Victor, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften, Supplement-Band 15 (1978), 1583-1676, hier 1602-1634.
[2] Hans Jürgen Hillen: Von Aeneas zu Romulus. Die Legenden von der Gründung Roms. Mit einer lateinisch-deutschen Ausgabe der Origo gentis Romanae, Düsseldorf / Zürich 2003.
[3] Siehe Anm. 1.
Ulrich Lambrecht