Claudia Bruns / Walter Tilmann (Hgg.): Von Lust und Schmerz. Eine Historische Anthropologie der Sexualität, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004, 332 S., ISBN 978-3-412-07303-9, EUR 24,90
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Nach Michel Foucaults wegweisendem Werk "Histoire de la sexualité" (1976) verschrieb sich die internationale Sexualitätsgeschichte ganz der Erforschung von Sexualdiskursen. Die entstandene Literatur füllt inzwischen Bibliotheken. [1] In den letzten Jahren wurden die Grenzen einer diskurszentrierten Historiografie allerdings immer deutlicher sichtbar. Sexuelle Erfahrung konnte gerade in historischen Dimensionen nicht als rein diskurskonstruierte Formation erschlossen werden, die sexuellen Subjekte funktionierten keineswegs als 'hilflose' Diskursmarionetten. Damit trat die Interaktion von historischen Akteuren / Subjekten und sexuellen Normen, Bildern, Symbolen und Narrativen in den Mittelpunkt des geschichtswissenschaftlichen Interesses, die Genese der sexuellen Erfahrung avancierte zum vordringlichen Untersuchungsgegenstand.
Claudia Bruns und Tilmann Walter wollen mit dem vorliegenden Sammelband die diskursfixierte Sexualitätsgeschichte ebenfalls weiterbringen, nämlich mit historisch-anthropologischen Konzepten und Aspekten. Gemäß den Herausgebern besteht die Aufgabe einer Historischen Anthropologie der Sexualität einmal in der "kritischen Reflexion der Frage nach universalen und kulturell partikularen Bedürfnissen und Erfahrungen des Menschen" (12) - wobei für dieses Unternehmen keine echte Chance bestünde, endgültige Antworten zu formulieren. Als konstant bewerten sie "(womöglich) die untergründig wirksamen Bedürfnisse, höchst modellierbar dagegen die Symbole, Begrifflichkeiten, Bedeutungen und Medien, denen sie unterliegen" (13). Die historisch-anthropologisch gewendete Sexualitätsgeschichte könne dabei nur auf Basis eines konstruktivistischen Sexualkonzepts erschlossen werden. Ein solches entwerfen Bruns und Walter in ihrer Einleitung in einem sehr anregenden, leider aber recht kurzen Textabschnitt. Nach der von John H. Gagnon und William Simon in den 1970er- und 1980er-Jahren vorgelegten Scripting-Theorie werde das menschliche Sexualverhalten innerhalb sexueller "Scripts" vollzogen und damit festgelegt, was überhaupt als sexuell empfunden und praktiziert werde. Die soziokulturelle Grammatik der Gefühle werde gemäß dem Bourdieu'schen Habitus inkorporiert, die sexuelle Erfahrung entstehe als ein "Ineinandergreifen von biologisch-sexuellem Wissensdiskurs, historischen Machtbeziehungen und einer je spezifischen Subjektbildung" (17). Zu Recht postulieren die Herausgeber im Zusammenspiel dieser drei Elemente auch die Dimensionen einer zukünftigen Historischen Anthropologie als Historiografie sexueller Erfahrungen.
Bruns und Walter legen damit die Latte für die Autorinnen und Autoren ihres Bandes recht hoch. Auch haben sich viele der bisher untersuchten sexualitätsgeschichtlichen Quellen als wenig geeignet für eine mehrdimensionale, erfahrungsgesättigte Analyse und Interpretation erwiesen. Erfreulich und eine wichtige Vorgabe für weitere Forschungen ist, dass es den meisten Autorinnen und Autoren gelingt, eine Brücke zur individuellen und kollektiven Erfahrung in der Geschichte zu schlagen und die Bedeutung von Diskursen und Machtkonstellationen für die Scriptgenese zu reflektieren. Neben neu erschlossenem Quellenmaterial werden bekannte Quellentypen (re-)interpretiert, und so wird ein vielschichtiges Bild des Sexuellen zwischen "Lust und Schmerz" von der Frühen Neuzeit bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gezeichnet.
Als sprachlich äußerst komplexe Quellen erweisen sich wieder einmal Gerichtsakten. Wie in seinen bisherigen Arbeiten unternimmt Helmut Puff eine differenzierte Analyse 'sexueller' Ketzereiprozesse aus dem schweizerdeutschen Raum des 16. Jahrhunderts. Er kann zeigen, dass die sozial und strafrechtlich sanktionierten gleichgeschlechtlichen Handlungen zwischen Männern entgegen einer vereinheitlichenden Vorstellung von 'der' Homosexualität in spezifischen Codes und Milieus zu verorten sind. Gerade die involvierten Akteure zogen "oft eine Grenze zwischen Analverkehr als der eigentlich 'verdammenswerten' Praxis und anderen, weniger 'sündhaften' Formen sexuellen Kontakts - eine Grenzziehung, mit der einige Männer ganz gut leben konnten" (85). Ein ähnlich vielschichtiges Bild entwirft Martin Zürn anhand hunderter Fälle kriminalisierter Sexualität in der Stadt Freiburg im Breisgau zwischen 1700 und 1749. Die eruierten Delikte lassen die enge Verflechtung von Wollust, Macht und Angst in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext erkennbar und frühneuzeitliche Körpererfahrung sprachlich greifbar werden. Auch wenn sie angesichts der Verhörsituation strategisch angelegt sind, hat man solche 'nahen' Beschreibungen von sexuellen Praktiken, Gefühlen und Reflexionen bislang nur selten gelesen.
Stefan Micheler stellt die in Freundschaftszeitschriften veröffentlichten Selbstbilder von "Homosexuellen" während der Weimarer Republik den Gerichtsakten und gerichtsmedizinischen Gutachten der NS-Zeit gegenüber. Erstere präsentieren gleichgeschlechtliche Beziehungen möglichst entsexualisiert, ein Bestreben, das sich auch auf die Selbstbezeichnung und -wahrnehmung auswirken sollte. Dem gegenüber betrieben Polizei, Staatsanwälte, Richter und Mediziner im NS-Regime ihre Nach- und Ausforschung ganz im Zeichen einer pervers-pathologischen Sexualisierung der Angeklagten. Beide Wahrheitstechnologien animierten gleichgeschlechtlich Begehrende sich im Zeichen des Sexus zu reflektieren. Nahe an die Trias von Wissensdiskurs, Machtbeziehungen und Subjektbildung kommt auch Karen Nolte mit ihrem Artikel über hysterische Frauen in der Landesheilanstalt Marburg um 1900. Obwohl sich dort die Ärzte längst von den auf die Genitalien fixierten 'alten' Hysterielehren abgrenzten, blieben sie diesen Vorstellungen im alltäglichen Umgang mit den Patientinnen verhaftet und sexualisierten Diagnose, Ätiologie und Therapie. Umgekehrt konnte Nolte in den Erzählungen der Frauen keineswegs die vermutete Frigidität oder Nymphomanie erkennen, sondern vielmehr ungestilltes sexuelles Begehren.
Die weiteren Beiträge des Sammelbandes können weniger auf individuelle Erfahrungstexte zurückgreifen und bleiben deshalb stärker im Rahmen der bisherigen Diskurs- und Dispositivgeschichte. Doch auch hier steht die Reflexion der sprachlichen Dimensionen sexueller "Scripts" im Vordergrund. So bei Laura Balbani, die für sexuell-erotische Begriffe in den Gesundheitslehren und der "Wunderliteratur" der Frühneuzeit eine recht subtile Verwendung von Standardsprache und Latein (entsprechend der jeweiligen Textsorten und Zielgruppen) vorführt. Welche Konzepte die wissenschaftlichen Debatten über die menschliche Sexualität in den letzten 150 Jahren geprägt haben, analysiert Tilmann Walter in einem Wechselspiel von Unterdrückung und Förderung sexueller Energien, von Normalisierung und Pathologisierung, von produktiver und zuletzt konsumistischer Besetzung der Sexualitäten. Dass diese Zuschreibungen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts besonders auf den weiblichen Konsumkörper gerichtet waren, zeigt Heiko Stoff anhand der Diskussion um Schönheits- und Verjüngungsoperationen mittels Hoden- und Eierstockverpflanzungen.
Heike Schader thematisiert geschlechterspezifische Kategorien bei der Konstituierung weiblicher Homosexualität als Selbst- und Lebenskonzept in der Zwischenkriegszeit und geht der Frage nach, wie weit Sadismus beziehungsweise Masochismus als lesbische Spezifika gesehen wurden. Die Konstruktion "jüdischer" Sexualität in Selbst- und Fremdzuschreibungen im 19. Jahrhundert führte laut Klaus Hödl dazu, dass Nichtjuden "die Beschneidung als Merkmal der jüdischen Differenz betrachten und dadurch Juden ein 'abartiges' Sexualleben" (193) zuschreiben konnten. Egbert Klauke entwirft die Kontroverse zwischen den Institutionen der Ehe- und Sexualberatung in Deutschland von 1918 bis 1945 als eine bevölkerungs- und sozialpolitische Auseinandersetzung um die "Sexualnot" von Arbeiterfrauen gleichwie um eugenische und rassenhygienische Zielsetzungen. Gunter Schmidts knapper Beitrag über den Wandel des jugendlichen Sexualverhaltens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde in viel ausführlicherer Form schon an anderen Stellen publiziert und fällt aufgrund recht generalisierender Aussagen aus dem sonst so differenzierten 'Erfahrungsrahmen'.
Zu hoffen ist, dass dieser Band zur Überwindung des einengenden Diskurspanzers der Sexualitätsgeschichte beitragen wird. Seine Lektüre macht jedenfalls Lust auf eine weitere Öffnung des historiografischen Feldes.
Anmerkung:
[1] Vgl. die Datenbank Bibliography of the History of Western Sexuality: http://www.univie.ac.at/Wirtschaftsgeschichte/Sexbibl/
Franz X. Eder