Rezension über:

Robert Rollinger / Christoph Ulf (Hgg.): Griechische Archaik. Interne Entwicklungen - Externe Impulse, Berlin: Akademie Verlag 2004, 520 S., ISBN 978-3-05-003681-6, EUR 69,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Mischa Meier
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Sabine Panzram
Empfohlene Zitierweise:
Mischa Meier: Rezension von: Robert Rollinger / Christoph Ulf (Hgg.): Griechische Archaik. Interne Entwicklungen - Externe Impulse, Berlin: Akademie Verlag 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 10 [15.10.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/10/5456.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Robert Rollinger / Christoph Ulf (Hgg.): Griechische Archaik

Textgröße: A A A

Bei dem Sammelband handelt es sich um die Publikation der Referate einer interdisziplinären Innsbrucker Tagung im November 2001. Ziel der Herausgeber war vor allem, eine aktuelle Übersicht über Ergebnisse, Perspektiven und zukünftig zu diskutierende Probleme in der Frage nach möglichen Verbindungen zwischen dem archaischen Griechenland und dem Nahen Osten vorzulegen, unter dem "Leitthema [... einer] Betrachtung innergriechischer Phänomene im Lichte eines breiteren Blickwinkels, der auch die Levante" miteinbezieht (13). Das Buch stellt damit ein weiteres fruchtbares Produkt der diesbezüglichen Forschungen dar, die seit einigen Jahren einen Schwerpunkt der Innsbrucker Altertumswissenschaftler bilden. Die Diskussion um mögliche Einflüsse, die die griechische Kultur aus dem 'Alten Orient' empfangen haben könnte, wird seit längerem auf zunehmend breiter Basis geführt, wenngleich die dabei vertretenen Positionen - insbesondere hinsichtlich der Frage nach nahöstlichen Impulsen für den griechischen Polisbildungsprozess - zum Teil erheblich divergieren. So stehen etwa dem vor einiger Zeit geäußerten Diktum von der "frühgriechische[n Epoche] als spätorientalische[r] Randkultur" [1] erheblich skeptischere Stimmen gegenüber, die mit guten Gründen davor warnen, die ausgesprochen komplexe Problemlage auf solch plakative Formeln zu reduzieren und in der griechischen Polis lediglich eine besondere Spielart eines gemeinmediterranen Stadtstaates zu sehen, der insbesondere auf phönizische Vermittlung zurückgehe. [2]

Mit gutem Recht weist daher Kurt Raaflaub ("Zwischen Ost und West: Phönizische Einflüsse auf die griechische Polisbildung?") auf die Schwierigkeiten hin, die sich ergeben, wenn man den Einfluss des phönikischen Stadtstaates auf die griechische Polis in besonderer Weise hervorheben möchte. In Auseinandersetzung vornehmlich mit Fritz Gschnitzer [3] betont Kurt Raaflaub vor allem die besondere Bedeutung von Königtum und Tempel in den phönikischen Gemeinwesen, konfrontiert diese mit dem griechischen Konzept der "Bürgergemeinde" (273, 276 f.) und hält vor einem derartigen Hintergrund eine weitgehend unabhängige Entwicklung der griechischen Polis für wahrscheinlich (278 f.). Engere Kontakte zu den Phönikern hätten sich ohnehin erst seit dem späten 8. Jahrhundert ausgebildet; zu diesem Zeitpunkt sei die griechische Polis jedoch - zumindest in ihren wichtigsten Grundzügen - bereits 'fertig' gewesen (282), was freilich Impulse aus dem Osten im Zuge der weiteren Entwicklung nicht ausschließe.

Auch Winfried Schmitz ("Griechische und nahöstliche Spruchweisheit. Die Erga kai hemerai Hesiods und nahöstliche Weisheitsliteratur") steht einem Übernahme-Modell - wie es vielfach gerade für Hesiod, auf den er seine Untersuchung konzentriert, häufig vertreten wurde - eher skeptisch gegenüber. In Anlehnung an seine Forschungen zu bäuerlichen Lebensformen im antiken Griechenland [4] ordnet Winfried Schmitz die in knappe Sinnsprüche gekleideten Normen und Regelungen, die bei Hesiod greifbar sind, in den Kontext bäuerlich-traditionaler, nur gering differenzierter Gesellschaften ein (319); demgegenüber deuteten die nahöstlichen Spruchweisheiten auf eine Herkunft aus komplexer strukturierten Gesellschaften mit ausgeprägteren Hierarchien hin (321). Winfried Schmitz sieht in ihnen Lehrschriften, die unter anderem als Schultexte verwendet worden seien, und stellt sie der griechischen "Volksweisheit" bei Hesiod gegenüber (322). Auch wenn einige Sprüche auf den ersten Blick Ähnlichkeiten aufwiesen, lasse sich aufgrund ihrer Genese in unterschiedlichen sozialen Kontexten kein Übernahmeverhältnis erweisen (324, 329).

Dass einfache Entlehnungsmodelle in der Tat zu kurz greifen, zeigt auch Alberto Bernabé ("Hittites and Greeks. Mythical Influences and Methodological Considerations"), der auf methodische Probleme hinweist, die sich ergeben, wenn man griechische Mythen linear auf nahöstliche Vorbilder zurückführen will; stattdessen sei zu beachten, dass auch ähnliches Material in unterschiedlichen Kulturkreisen gänzlich verschiedene Bedeutungen annehmen könne.

Dies alles bedeutet jedoch keineswegs, dass die Diskussion über nahöstliche Impulse und Einflüsse auf die griechische Kultur insgesamt keine Perspektiven mehr bietet. So kann etwa Günther Lorenz ("Asklepios, der Heiler mit dem Hund, und der Orient") eine Reihe von Argumenten dafür anführen, die Herkunft des griechischen Heilgottes Asklepios im Orient anzusiedeln, und Robert Rollinger ("Die Verschriftlichung von Normen: Einflüsse und Elemente orientalischer Kulturtechnik in den homerischen Epen, dargestellt am Beispiel des Vertragswesens") vermag auf stupende Parallelen in der Vertragspraxis bei Homer und im Alten Orient in der 1. Hälfte des 1. Jahrtausends hinzuweisen. Barbara Patzek ("Griechischer Logos und das intellektuelle Handwerk des Vorderen Orients") wagt sich mit ihrer Diskussion der Frage nach dem "Anteil des Alten Orients an dem griechischen Denken" (427) auf ein methodisch heikles Feld und eröffnet dabei eine Reihe neuer Perspektiven. Peter W. Haider schließlich ("Kontakte zwischen Griechen und Ägyptern und ihre Auswirkungen auf die archaisch-griechische Welt") lenkt den Blick auf Ägypten, diskutiert die Folgen des dortigen intensiven Kontakts zwischen Griechen und Ägyptern seit der Mitte des 7. Jahrhunderts vor Christus und sucht darzulegen, "von welch vielfältiger, weitreichender und daher eminenter Bedeutung der Kontakt zu Ägypten für den Entstehungsprozeß der archaisch-griechischen Gesellschaft und ihrer Kultur war" (473).

Dies alles führt letztlich zu der Frage, was man eigentlich unter einer 'griechischen' und einer 'orientalischen' 'Kultur' verstehen soll und nach welchen Kriterien dementsprechend die Grenzziehungen erfolgen sollten, um überhaupt von 'Einflüssen', 'Übernahmen' und dergleichen sprechen zu können. Auf der Innsbrucker Tagung ist man in dieser Hinsicht konsequent geblieben und hat den traditionellen Kultur-Begriff mit seinen verschiedenen Schattierungen entsprechend problematisiert und nahezu aufgelöst. Die diesbezüglichen einleitenden Überlegungen von Jonathan M. Hall ("Culture, Cultures and Acculturation") flankiert Christoph Ulf ("Die Instrumentalisierung der griechischen Frühzeit. Interdependenzen zwischen Epochencharakteristik und politischer Überzeugung bei Ernst Curtius und Jacob Burckhardt") mit einem wissenschaftsgeschichtlich orientierten Beitrag zu Ernst Curtius und Jakob Burckhardt, der die zeitgeschichtliche Verwurzelung zentraler Begriffe und dahinter stehender Konzepte einmal mehr illustriert.

Die übrigen Beiträge sind zentralen Einzelfragen zur Geschichte des archaischen Griechenland gewidmet. So diskutiert Birgitta Eder ("Antike und moderne Mythenbildung: Der Troianische Krieg und die historische Überlieferung") die identitätsstiftende Bedeutung der 'Ilias', Lukas Thommen ("Der spartanische Kosmos und sein 'Feldlager' der Homoioi. Begriffs- und forschungsgeschichtliche Überlegungen zum Sparta-Mythos") behandelt prominente Elemente der - vermeintlichen - spartanischen Ordnung unter der Fragestellung nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung (Homoioi-Konzept, 'Kosmos', Feldlager, Syskenien, Blutsuppe), Erich Kistler ("'Kampf der Mentalitäten': Ian Morris' 'Elitist-' versus 'Middling-Ideology'") versucht unter anderem, die vermeintliche Exzeptionalität des Heroon von Lefkandi zu relativieren (154), und Walter Scheidel ("Gräberstatistik und Bevölkerungsgeschichte: Attika im achten Jahrhundert") formuliert erhebliche methodische Bedenken gegen den traditionellen (allerdings schon seit längerem diskutierten und relativierten) Rückschluss von Gräberstatistiken auf eine Bevölkerungsexplosion in Attika im 8. Jahrhundert vor Christus. Eckhard Wirbelauer ("Eine Frage von Telekommunikation? Die Griechen und ihre Schrift im 9.-7. Jahrhundert v. Chr.") diskutiert die Frage nach den Gründen für die Einführung der Schrift in Griechenland und versucht zu zeigen, dass diese weniger in dem Bemühen um Speicherung von Informationen und Traditionen zu suchen seien als in der Notwendigkeit, auch über größere Distanzen hinweg Nachrichten übermitteln zu können. Reinhold Bichler ("Das chronologische Bild der 'Archaik'") sieht das moderne Konzept einer 'archaischen Zeit' bereits in den chronologischen Strukturen der Geschichtswerke Herodots und des Thukydides präfiguriert, und Astrid Möller ("Elis, Olympia und das Jahr 580 v. Chr. Zur Frage der Eroberung der Pisatis") versucht zu zeigen, dass die Vorstellung einer Trennung von Elis und Pisatis erst im 4. Jahrhundert entstanden sei und dass dementsprechend die überlieferten Ereignisse im Zusammenhang einer solchen Trennung späte Konstruktion seien. Damit leistet sie einen Beitrag zu Fragen der Chronologie auf der Peloponnes in archaischer Zeit, die seit kurzer Zeit erneut in die Diskussion geraten ist. [5]

Der durch umfangreiche Register vorbildlich ausgestattete Sammelband stellt eine gelungene Standortbestimmung der Forschung im Hinblick auf wichtige Fragen zur Geschichte der griechischen Archaik dar und setzt mit seiner dezidierten und bewusst kontrovers angegangenen Fragestellung nach möglichen nahöstlichen Einflüssen einen Akzent, der anderen neueren Arbeiten zur Archaik in dieser konsequenten Form fehlt. [6]


Anmerkungen:

[1] Hubert Cancik / Helmuth Schneider: Vorwort, in: Der Neue Pauly 1 (1996), V-VII, hier VI.

[2] Siehe etwa Karl-Wilhelm Welwei: Die griechische Polis. Entstehung, politische Organisationsform, historische Bedeutung, in: Karl-Wilhelm Welwei: Polis und Arché. Kleine Schriften zu Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen in der griechischen Welt, hg. von Mischa Meier, Stuttgart 2000, 87-107, hier 88 f.

[3] Fritz Gschnitzer: Phoinikisch-karthagisches Verfassungsdenken, in: Kurt Raaflaub u.a. (Hgg.): Anfänge politischen Denkens in der Antike: Die nahöstlichen Kulturen und die Griechen, München 1993, 187-198 (= Fritz Gschnitzer, Kleine Schriften zum griechischen und römischen Altertum; Bd. 1, hg. von Catherine Trümpy/Tassilo Schmitt), Stuttgart 2001, 249-260.

[4] Siehe Winfried Schmitz: Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, Berlin 2004; derselbe: Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, in: Historische Zeitschrift 68 (1999), 561-597.

[5] Siehe zuletzt Pamela-Jane Shaw: Discrepancies in Olympiad Dating and Chronological Problems of Archaic Peloponnesian History, Stuttgart 2003.

[6] Siehe etwa Robin Osborne: Greece in the Making 1200-479 BC, London 1996, Nachdruck 1999; Lynette G. Mitchell / Peter J. Rhodes (Hgg.): The Development of the Polis in Archaic Greece, London / New York 1997; Nick Fisher / Hans van Wees (Hgg.): Archaic Greece, London 1998.

Mischa Meier