Winfried Halder: Innenpolitik im Kaiserreich 1871-1914 (= Geschichte kompakt), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, 163 S., ISBN 978-3-534-15483-8, EUR 14,90
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An Werken zum Deutschen Kaiserreich ist an sich kein Mangel. Es gibt sie in zahlreichen Varianten - umfassend gelehrt bei Nipperdey, analytisch-gesellschaftsgeschichtlich bei Wehler, in fundierten Überblicken bei Ullmann oder Berghahn. Die Herausgeber der Reihe "Geschichte kompakt" haben es mit einem neuen Konzept versucht: Angesichts erweiterter und veränderter Fragestellungen der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren - weniger Ereignis- und Nationalgeschichte, mehr komparatistische Struktur- und Kulturgeschichte - werde Geschichte immer komplexer und komplizierter. Dies mache eine "konzentrierte, übersichtlich konzipierte und gut lesbare" Darstellung für "Interessierte, Lehrende und Lernende" umso nötiger, für einen ersten und raschen Zugriff auf ein Thema, zur Prüfungsvorbereitung, als verlässliche Zusammenfassung des Kenntnisstandes (VII). Der vorliegende Band soll dies für die Innenpolitik des Kaiserreichs leisten. Und er tut dies für die zentralen politischen Ereignisstränge, auf die er sich weitgehend allein konzentriert, in recht zuverlässiger Weise, solide, unprätentiös und ohne Schnörkel, durchweg referierend und deskriptiv, freilich auch ohne große interpretatorische Ambitionen und eigene Akzentsetzungen, insgesamt eine traditionelle politikgeschichtliche Darstellung mit begrenzten Ansprüchen und von ebensolchem Wert.
Das Thema wird, der Chronologie folgend, in drei Kapiteln abgeschritten: Der erste Teil gibt einen Überblick über die verfassungsrechtlichen Grundlagen, das Parteienspektrum und die Interessenverbände des Kaiserreiches, ferner kursorisch auf sechseinhalb Seiten über einige demografische, soziale und ökonomische Faktoren und Entwicklungen (1-36). Die beiden weiteren Kapitel behandeln dann die innenpolitischen Vorgänge in zeitlicher Zweiteilung: Zunächst werden die "Konfliktlinien in der Ära Bismarck 1871-1890" thematisiert, konkret die Auseinandersetzungen im Kulturkampf und um das Sozialistengesetz, die Debatten zur Sozialpolitik, die Maßnahmen der "konservativen Wende" 1878/79, schließlich das Verhältnis Bismarcks zu Wilhelm II. und des Kanzlers Entlassung (37-78). Danach geht es um die Innenpolitik "im Zeichen des Wilhelminismus 1890-1914", um die Konstanten und Wandlungen des Herrschaftssystems und des innenpolitischen Kräftefeldes ("persönliches Regiment" Wilhelms II., Kontinuität und Wandel der Parteienlandschaft, Radikalisierungstendenzen) sowie um die wichtigsten innenpolitischen Diskussionen und Aktionen zwischen 1890 und 1914 von Caprivis "Neuem Kurs" bis zur Zabern-Affäre, dies einigermaßen starr gegliedert nach den einzelnen Kanzlerschaften (79-144). Am Ende steht eine kurze Schlussbetrachtung (145-149) mit einem Ausblick auf die "verspätete" Verfassungsentwicklung im Krieg und einer skeptischen Bewertung des politischen Systems des Kaiserreichs: Dies sei aufgrund bereits von Bismarck verschuldeter außenpolitischer Belastungen ("System der Aushilfen") und in der Folge bewusst eingegangener Risiken, wegen verfassungspolitischer Widersprüche zwischen ökonomischer Modernität und mangelnden politischen Reformen, einer auf vielen Feldern desintegrativen, mitunter "autoritären" Innenpolitik und entsprechender Friktionen sowie der "prekären Herrscherpersönlichkeit" Wilhelms II. "insgesamt von innen heraus gescheitert"; der Krieg habe nur als "Katalysator seiner Implosion gewirkt, nicht etwa als Ursache" (148 f.). Auf der formal-didaktischen Seite enthält das Werk die für die Buchreihe üblichen Merkmale und Hilfsmittel: eine Zeittafel vor jedem der drei Kapitel, manche durch Schraffur hervorgehobenen Quellenauszüge (Reichstagsreden, Gesetzespassagen, Parteiprogramme, Memoiren et cetera), im Schriftbild besonders markierte, lexikalisch gehaltene Einschübe mit kurzen Biogrammen der Kaiser, Kanzler und Politiker sowie Erläuterungen zu wichtigen Sachverhalten (zum Beispiel "Norddeutscher Bund" oder "Hofkamarilla"), einige Tabellen und Grafiken (zum Beispiel Bevölkerungsgröße der Einzelstaaten und Reichstagswahlergebnisse), ferner eine kurze, kommentierte Auswahlbibliografie (151-157) sowie ein Personen- und Sachregister.
Jede kritische Bemerkung zu einem derart knapp bemessenen Überblickswerk über ein derart breit erforschtes Themenfeld ist natürlich vorweg mit einer Einschränkung zu versehen: Das Buch will keine Gesamtgeschichte des Kaiserreichs sein, und sein Autor ist in höchstem Maße zur Auswahl gezwungen, muss weglassen, sich beschränken, und er macht das eben nach seinen, die innenpolitischen Vorgänge ins Zentrum stellenden Kriterien. Dennoch drängen sich zwei grundsätzliche Einwände auf, die sich großenteils weniger an den Autor als an die Herausgeber richten. Erstens: Die immer komplexer werdende geschichtswissenschaftliche Forschung zu reduzieren und einzudampfen mag ja durchaus notwendig sein, aber ob man den Interessierten und den Studierenden einen Gefallen tut, deshalb weitgehend auf die Erörterung von Forschungskontroversen, mithin auf die prinzipielle Problematisierung und Relativierung von Geschichtsdarstellung, zu verzichten, ist doch die Frage. Der Verfasser geht hier, so weit ich sehe, nur in äußerst knappen Hinweisen und ganz und gar fragmentarisch auf die Bewertungsfragen zur Struktur der "konstitutionellen Monarchie" (19), zum "persönlichen Regiment" (80) und abschließend zur Modernisierungsfähigkeit des Kaiserreichs (147 f.) ein; Literaturbelege fehlen in dem Buch durchgehend. Da ist das EDG-Konzept mit seinem Forschungsteil wesentlich tragfähiger und weiterführender. Überdies erscheinen mir die zwar kurzen, aber doch sehr negativ wertenden Aussagen zum letzten Punkt auch inhaltlich zu undifferenziert, zu einseitig und zu deterministisch. Das Kaiserreich ist für derlei Urteile bei allen unbestrittenen strukturellen Defiziten ein viel zu komplexes und eben gar nicht "kompaktes" Gebilde, und es hinterließ ein zwiespältiges Erbe: Die betonten "autoritären", reformresistenten inneren Verhältnisse standen neben entstehender Parlamentskultur und einem fortschrittlichen Wahlrecht, neben Verfassungsrechten und bürgerlichen Werten. Man müsste deshalb wohl auch viel nachdenklicher und vorsichtiger abwägen, inwieweit das System selbst zum Untergang und in den Krieg führte oder ob dieser nicht vielmehr auch - als freilich mitverschuldete, aber ebenso teilweise exogene Ursache - viele bemerkenswerte Entwicklungsstränge unterbrach oder deformierte.
Der zweite Einwand: Ist eine über weite Strecken rein beschreibende und ereignisgeschichtliche, nur die gängigen Einsichten wiederholende und die altbekannten Aktionsfelder referierende Überblicksskizze der Innenpolitik des Kaiserreichs angesichts der erwähnten alternativen Buchangebote wirklich notwendig und im Interesse des Publikums? Wenn schon im Vorwort die Rede davon ist, dass die Historiker ihren Gegenstand in letzter Zeit immer stärker mit veränderten Frageperspektiven konfrontiert und damit doch wohl neue, erweiterte Kenntnisse zu Tage gefördert haben und dass sie in manchen Punkten die "Konzentration auf eine Nationalgeschichte zugunsten offener, vergleichender Perspektiven" zu überwinden versuchen (VII), warum werden derartige neue Forschungsansätze und ihre Ergebnisse nicht näher vermittelt? Auch in einem komprimierten Handbuch sollte der Leser beispielsweise auf die aktuellen kultur- oder mediengeschichtlichen Forschungen, auf geschlechter- oder umweltgeschichtliche Fragestellungen hingewiesen werden, genauer etwas von den Arbeiten zu Politikstilen, politischen Kommunikationsformen und Symbolen und deren öffentlicher Wahrnehmung oder von den kontroversen Debatten zu Sozialmilieu und Konfessionalität erfahren. Auch dadurch wird der Rahmen für Innenpolitik abgesteckt. Probleme kann im Übrigen auch die alleinige Konzentration auf die Innenpolitik bereiten, nicht nur weil dies ebenfalls den konstatierten Forschungstrends zu vermehrter vergleichend-transnationaler Geschichtsschreibung entgegensteht, sondern auch weil Innen- und Außenpolitik (über deren jeweiligen Primat lange Zeit ein hitziger, gleichfalls nicht erwähnter Interpretationsstreit tobte) viel zu eng miteinander verzahnt sind. Bezeichnenderweise wird die thematische Beschränkung vom Autor auch an manchen Stellen aufgebrochen, etwa wenn es um die politische Instrumentalisierung der Kolonialpolitik, die kolonialpolitischen Debatten im Reichstag und die "Hottentotten-Wahlen" von 1907 geht (67 f., 116 ff.), wenn die außenpolitischen Handlungsbedingungen der Regierung Bethmann Hollweg zur Debatte stehen (132 ff., 141 ff.) oder wenn, wie erwähnt, abschließend eine Wertung der Funktionsfähigkeit des Kaiserreichs angedeutet wird, die ohne einen Hinweis auf die außen- und bündnispolitischen Belastungen schlechterdings unmöglich ist.
Bernhard Löffler