Caroline Milow: Die ukrainische Frage 1917-1923 im Spannungsfeld der europäischen Diplomatie (= Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts München. Reihe: Geschichte; Bd. 68), Wiesbaden: Harrassowitz 2002, 570 S., ISBN 978-3-447-04482-0, EUR 92,00
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Die Ukraine zählt zu jenen Staaten, die im Zuge des Zusammenbruches der Sowjetunion 1991 erstmals in ihrer Geschichte die volle staatliche Souveränität erlangten. Damit trat die Ukraine auch in das Bewußtsein des Westens, insbesondere des westlichen Europas, wobei sie - aufgrund der vorherrschenden russlandzentrierten Perspektive - vielfach als "neuer Staat" aufgefasst wurde. Die "ukrainische Frage" war jedoch keineswegs neu: Sie stand bereits 1917, nach der Niederlage Rußlands im Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution, auf der Tagesordnung der internationalen Politik. Zuvor hatten weite Teile des heutigen Staatsgebiets der Ukraine über Jahrhunderte hinweg zum Herrschaftsbereich fremder Staaten gehört: zum Königreich Polen-Litauen und zum Osmanischen Reich, vor allem aber zur Habsburger Monarchie und zum russischen Zarenreich. Die Geschichte der Ukraine muss daher stets auch im Kontext der Geschichte dieser multinationalen Imperien gesehen werden.
Ein Staat namens Ukraine trat erstmals 1918 in Erscheinung, als das erste ukrainische Parlament der Neuzeit - die Zentralrada - nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches die Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik proklamierte. Der auf die Oktoberrevolution folgende Bürgerkrieg setzte dieser Neugründung jedoch ein schnelles Ende, weshalb es zutreffender ist, von einem "gescheiterten Staatsversuch" (Rudolf A. Mark) zu sprechen. Einen dauerhaften ukrainischen Staat mit klar definierten Grenzen gab es erst nach dem Ende des Bürgerkrieges - und zwar als Sowjetrepublik innerhalb der Sowjetunion.
Während sich 1991 der Zerfall der Zentralmacht nahezu gewaltfrei vollzog, war das Land nach den Revolutionen von 1917 in den Wirren des russischen Bürgerkrieges versunken. Im Verlauf der blutigen Auseinandersetzungen hatten sich in der Ukraine mehrere Regierungen gebildet, die allesamt Anspruch auf die alleinige Herrschaft in einem unabhängigen ukrainischen Staat erhoben. Die erste Regierung stellte das Generalsekretariat der ukrainischen Zentralrada dar, die auf die deutsche und österreichisch-ungarische Besatzung gestützte Herrschaft des Hetmans Pavlo Skoropads'kyj folgte. Ende 1918, als die Mittelmächte zusammengebrochen waren und mit ihnen auch der Hetman stürzte, etablierte sich in Kiev das vor allem mit den Namen Vynnyčenko und Petljura verbundene Direktorium der wiedererrichteten Ukrainischen Volksrepublik. Daneben wurde im November 1918 in Lemberg die Westukrainische Volksrepublik ausgerufen. Auch die Bolschewiki hatten noch im Dezember 1917 eine erste Gegenregierung zur Zentralrada in Charkiv ins Leben gerufen. Eine zweite bolschewistische Regierung wurde Ende 1918 gebildet. Schließlich kämpften in der Ukraine auch die weißen Truppen des Generals Denikin, dessen Ziel in der Wiedererrichtung des Russischen Imperiums bestand.
Daneben übten in diesen Jahren eine Reihe von Staaten großen Einfluß auf die Ereignisse in der Ukraine aus: das Deutsche Reich, die Habsburger Monarchie, Frankreich, Großbritannien und Polen sowie teilweise die USA. Das Engagement dieser Mächte, vor allem Frankreichs und des Deutschen Reiches, gipfelte in der vorübergehenden diplomatischen Anerkennung eines selbständigen ukrainischen Staates. Der Verlauf des Bürgerkrieges vereitelte jedoch alle ukrainischen Versuche, einen selbstständigen Staat zu schaffen und ihm die internationale Anerkennung zu sichern.
Caroline Milow unternimmt es in ihrer Dissertation, dieses komplizierte Geflecht aus Bürgerkriegswirren und internationalen Interessen zu analysieren. Ihr Ziel lautet sich "mit der ukrainischen Frage zwischen 1917 und 1923 im Rahmen der europäischen Diplomatie" (8) zu beschäftigen und "die Rolle der Ukraine im Kalkül europäischer Staatsmänner und Diplomaten" (8) aufzuzeigen. Damit betritt die Autorin Neuland, denn bisher ist dieser äußerst komplizierte und komplexe Aspekt des Bürgerkrieges in der Ukraine nicht umfassend bearbeitet worden. Die umfangreiche Studie ist in einen knappen innenpolitischen Teil und einen wesentlich größeren außenpolitischen Teil gegliedert, dessen Schwerpunkte auf dem Verhältnis der Ukraine unter der Herrschaft der Zentralrada und des Hetmans Pavlo Skoropads'kyj zu den Mittelmächten, der Ukrainischen Volksrepublik des Direktoriums zu den Entente-Mächten und schließlich auf der Frage Ostgaliziens liegen. Eine umfangreiche Zusammenstellung von Kurzbiografien der beteiligten Akteure, mehrere Karten sowie ein tabellarischer Überblick über die einzelnen Wirtschaftsverträge zwischen der Ukraine und den Mittelmächten runden den Band ab.
In erster Linie basiert die Arbeit auf Materialien aus französischen und österreichischen Archiven sowie aus dem schwedischen Reichsarchiv und dem Archiv des Völkerbundes in Genf. Zur Analyse der britischen und US-amerikanischen Positionen wurden einschlägige Mikrofilmeditionen herangezogen. In diesem Zusammenhang erscheint es jedoch fragwürdig, dass die Autorin (abgesehen von den in einigen Quellenpublikationen und in der Memoirenliteratur enthaltenen Materialien) keine Akten aus deutschen Archiven verwendet hat. Daraus resultiert eine bedeutende Verkürzung der Perspektive in Hinblick auf die Position der Mittelmächte; die Wiener Regierung und deren Vertreter treten zu sehr in den Vordergrund, obgleich die Habsburger Monarchie im Vergleich zum Deutschen Reich nur eine untergeordnete Rolle spielen konnte. Hinzu kommt, dass die Autorin in weiten Teilen der Darstellung auf die Auswertung von Literatur fast völlig verzichtet hat.
In dem Versuch, "das Verhältnis der Mittelmächte und der europäischen Staaten England und Frankreich sowie der Vereinigten Staaten zur Ukraine" (13) zu beleuchten, werden detailliert die zumeist dilettantisch anmutenden Bemühungen ukrainischer Diplomaten geschildert auf dem europäischen Parkett Fuß zu fassen und um diplomatische Anerkennung bei den Entente-Mächten, insbesondere bei Frankreich, zu werben. Im ersten Teil der Arbeit werden zwar die politischen und militärischen Entwicklungen in der Ukraine nachgezeichnet, bei der folgenden Analyse der ukrainischen Frage in der europäischen Diplomatie treten diese jedoch zu weit in den Hintergrund. So kann mitunter der Eindruck entstehen, es habe in den betreffenden Jahren einen weitgehend stabilen ukrainischen Staat mit einer einigermaßen handlungsfähigen Regierung gegeben. Dies war freilich erst nach 1921 der Fall, als die Bolschewiki das Land beherrschten und somit die Hoffnungen der Vertreter der Ukrainischen beziehungsweise der Westukrainischen Volksrepublik auf die diplomatische Anerkennung durch die Entente-Mächte bereits verflogen waren.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass es der Autorin auf Grund der vorgebrachten Einwände (vor allem der fehlenden Einbeziehung von Akten aus deutschen Archiven) nur bedingt gelungen ist, die internationalen Verflechtungen der ukrainischen Frage vor dem Hintergrund der chaotischen Entwicklung in den Jahren von Revolution und Bürgerkrieg zu entwirren. Dennoch gibt das Buch der Forschung zur ukrainischen und europäischen Geschichte von 1917 bis 1923 einen neuen und wichtigen Anstoß.
Christian Seidl