Clemens Zimmermann (Hg.): Kleinstadt in der Moderne (= Stadt in der Geschichte; Bd. 31), Ostfildern: Thorbecke 2004, 218 S., 10 Abb. und Grafiken, ISBN 978-3-7995-6431-1, EUR 29,00
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Die Geschichte der Stadt, der städtischen Eliten und insbesondere der Urbanisierung im 19. Jahrhundert ist in den letzten dreißig Jahren intensiv und ziemlich umfassend erforscht worden. Allerdings haben diese Forschungen im Allgemeinen stets die Großstädte oder jene Städte, die sich in rasantem Tempo zu solchen entwickeln sollten, in den Blick genommen und die als provinziell betrachtete und oft eher dem ländlichen Raum zugeordnete Kleinstadt vernachlässigt. Auf die daraus resultierende Forschungslücke weist Clemens Zimmermann im einleitenden Beitrag des hier anzuzeigenden Bandes hin, mit dem zugleich der Abbau dieses Defizits in Angriff genommen wird. Der Band enthält acht empirische Beiträge, die von dem Einleitungstext von Clemens Zimmermann und einem resümierenden Beitrag von Margareth Lanzinger eingerahmt werden. Der zentrale Fokus des Bandes liegt auf dem Zeitraum vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Fünf Beiträge wenden sich dieser Periode zu. Drei weitere Beiträge richten ihr Augenmerk auf die Zeit nach 1945, wobei insbesondere Perspektiven der Kleinstadtentwicklung zu Beginn des 21. Jahrhunderts diskutiert werden. Dass die Jahre der Weimarer Republik und der NS-Diktatur im Band nicht behandelt werden, dürfte wohl darauf zurückzuführen sein, dass Kleinstädte für diesen Zeitraum bereits intensiver untersucht worden sind, besonders in Hinsicht auf die Durchsetzung des Nationalsozialismus und die Anfälligkeit kleinstädtischer Eliten für die NS-Ideologie.
Clemens Zimmermann skizziert in seinem einleitenden Beitrag die zentralen Fragestellungen, die ihm für die Betrachtung der Kleinstadt im 19. und 20. Jahrhundert maßgeblich scheinen. Vor dem Hintergrund des differenzierten Umgangs mit modernisierungstheoretischen Entwürfen hebt er dabei vor allem auf die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen und auf das Nebeneinander von Lebenswelten ab. So gelte es zuerst einmal, eine Bestandsaufnahme der Kleinstadtentwicklung im 19. Jahrhundert zu machen und die Ursachen von Unterschieden gegenüber der Entwicklung der Groß- und Mittelstädte zu umreißen. Zweitens sei nach der Wahrnehmung der Kleinstadtbewohner in Umbruchperioden zu fragen, und drittens solle schließlich die Mittlerrolle von der Großstadt zum Land, die die Kleinstädte für die Urbanisierung und Urbanität übernommen hätten, analysiert werden. Hierbei sei vor allem auf die Formen der selektiven "nachholenden Modernisierung" einzugehen und zu klären, wieweit endogene und exogene Modernisierungsimpulse dabei eine Rolle spielten, welche Zeitverzögerungen es gab und was eigentlich Urbanität im Falle von Kleinstädten bedeutet. Zimmermann weist hierbei unter anderem darauf hin, dass die Genese und Existenz eigenständiger Kommunikations-, Geselligkeits- und Öffentlichkeitsformen in der Kleinstadt zu hinterfragen seien. Im 20. Jahrhundert sei die Kleinstadt dann erneut durch Modernisierungsschübe überformt worden. Hier stelle sich die Frage nach ihrer Rolle und Zukunft im beginnenden 21. Jahrhundert, nach dem symbolisch-integrativen Potenzial, das sie gewinnen könnten, und nach der Zukunft der krisengeschüttelten Kleinstadt in der ehemaligen DDR. Die beiden thematischen Blöcke des Bandes versuchen in der Folge, eine erste Standortbestimmung zu den von Zimmermann skizzierten Fragen zu geben.
Dem ersten aus fünf Beiträgen bestehenden Block zum 19. Jahrhundert gelingt es sehr gut, ein allgemeines Bild der Entwicklung der deutschen Kleinstadt zu skizzieren, woran die beiden vergleichenden Beiträge von Stefan Brakensiek zu allgemeinen Entwicklungslinien der Kleinstädte im 19. Jahrhundert und Oliver Barghorn zur Entwicklung der Kleinstadtverwaltung von 1871 bis 1914 entscheidenden Anteil haben. Brakensiek macht durch den Vergleich hessischer und westfälischer Kleinstädte deutlich, wie stark deren Entwicklung vom jeweiligen regionalen Umfeld abhängig war, von den staatlichen Rahmenbedingungen und der Intensität des gewerblichen Klimas. Infrastrukturelle Faktoren konnten davon ausgehend dann Katalysatorwirkung für eine dynamische Kleinstadtentwicklung haben. Für den Ausbau urbaner Infrastruktur waren städtische Zentralitätsfunktionen für das Umland sowie ein Mindestmaß an demografisch-ökonomischer Potenz nötig.
Der Beitrag von Oliver Barghorn, der nord- und süddeutsche Kleinstädte vergleichend untersucht, schließt an den Beitrag Brakensieks an, indem er die Herausbildung einer modernen Fachverwaltung in dynamischen Kleinstädten darstellt. Die Entwicklung zu einer qualifizierten, professionalisierten Stadtverwaltung begann in diesem Typ der Kleinstadt seit den 1880er-Jahren mit der Einstellung auswärtiger, juristisch geschulter Beamter als Bürgermeister und setzte sich seit der Jahrhundertwende in vier weiteren Bereichen (Polizeiwesen, Infrastruktur, Magistratsbüros, Finanzverwaltungen) fort. Barghorn wendet sich gegen die These eines qualitativen Sprungs in der Verwaltungsentwicklung zwischen Kleinstädten sowie Mittel- und Großstädten, und er kann ein großes Maß an Übereinstimmung in Nord- und Süddeutschland feststellen. Er macht dabei individuell sehr verschiedenartige Entwicklungen seit der Jahrhundertwende in den Kleinstädten aus, die erst am Vorabend des Ersten Weltkriegs allmählich zu einer Homogenisierung tendierten.
Der erste Abschnitt wird abgerundet durch die Beiträge von Peter Franke, der die ansonsten nicht thematisierten ostelbischen Städte behandelt, Marlis Lippik, die die Entwicklung Mühlackers von 1850 bis 1930 darstellt, und Hans Heiss / Hannes Stekl, die sich Bürgertum und gesellschaftlicher Modernisierung in Österreichs Kleinstädten zwischen 1850 und 1914 zuwenden. Franke untersucht insbesondere die Funktionsweise städtischer Selbstverwaltung in den ostelbischen Städten und ihre Folgen für die Politisierung der Kleinstädte. Die Aufnahme des Beitrages von Heiss und Stekl ist besonders sinnvoll, weil sie am österreichischen Beispiel ein ganz anderes System von Kleinstädten und kleinstädtischer Entwicklung vorstellen. Wegen der geringen Zahl von Großstädten gewannen Kleinstädte dort eine kompensatorische Funktion als Zentralorte und prägten den Stadtbegriff viel stärker, als dies im deutschen Raum der Fall gewesen ist. Heiss und Stekl liefern ein elaboriertes Bild von der Entwicklung der österreichischen Klein- und Mittelstädte und ihrer bürgerlichen Eliten. Sie können sich dabei auf die schon umfassendere österreichische Forschung stützen.
Während der erste thematische Block ausschließlich von Historikern bestritten wird, kommen im zweiten Block neben einem Historiker auch eine Soziologin und zwei Stadtplaner zu Wort, die ausgehend von einer historischen Perspektive Gegenwartsprobleme thematisieren. Christian Groh und Karoline Brombach / Johann Jessen wenden sich dabei Kleinstädten in Baden-Württemberg und Christine Hannemann dem ostdeutschen Raum zu.
Groh stellt die Kulturpolitik in bundesrepublikanischen Kleinstädten nach 1945 dar und konstatiert kaum Abweichungen von der allgemeinen Entwicklung, allerdings eine zeitliche Verzögerung bei der Adaptation an grundlegende kulturpolitische Brüche seit den 1970er-Jahren. Das brachte Vorteile mit sich, da man von Erfahrungen aus der Großstadt profitieren und deren Fehler vermeiden konnte. Groh hebt hervor, dass Kulturpolitik seit den 1970er-Jahren zunehmend als Standortfaktor gesehen werde, was zu einer Expansion im Kulturbereich seit der Mitte der 1980er-Jahre geführt habe. Die bereits lange zuvor bestehende Integrationsfunktion von Kulturpolitik wird von Groh dabei etwas zu stark vernachlässigt. Dass man zum Beispiel erst in den 1970er-Jahren die integrative Rolle von öffentlichen Festen in der Kleinstadt erkannt habe, darf bezweifelt werden. Hier wird wohl eher der Diskurs kleinstädtischer Eliten aufgegriffen, die bereits Existierendes unter soziokulturellen Vorzeichen neu zu verkaufen trachten.
Christine Hannemann wendet sich der krisengeschüttelten Kleinstadt Ostdeutschlands zu, die seit dem 19. Jahrhundert drei Marginalisierungsschübe durchlebt habe, während der Industrialisierung, während der 40-jährigen DDR-Geschichte und in der Nachwendezeit. Sie fragt nach der Überlebensfähigkeit der Kleinstädte angesichts der gravierenden ökonomischen Erosionsprozesse. Gestützt auf eine soziologische Befragung in vier ausgewählten Kleinstädten in Nordostdeutschland, macht sie dabei starke Bindungskräfte in der Bevölkerung aus, die ein Überleben der Kleinstädte noch absicherten. Längerfristig markiert sie als zentrales Problem die Perspektivlosigkeit für Jugendliche in Kleinstädten und in Ostdeutschland überhaupt, die über die Zukunft entscheiden werde, da die jetzige ältere Generation, die Garant für die kleinstädtische Stabilität sei, demografisch nur noch eine bestimmte Zeit diese Rolle übernehmen könne.
Karoline Brombach und Johann Jessen wenden sich demgegenüber der prosperierenden Kleinstadt in der Region Stuttgart nach 1945 zu und fragen nach den Veränderungen, die im Zuge der Suburbanisierung zu verzeichnen sind. Zuwanderung und wirtschaftlicher Aufschwung hätten seit 1945 zu einem kontinuierlichen Wachstum geführt, seit den 1970er-Jahren sei dann ein Wachstum der Kleinstädte zuungunsten der Mittelstädte und Stuttgarts zu konstatieren, was durch Randwanderung des Wohnens, von Industrie und Gewerbe und auch von Teilen des Dienstleistungssektors verursacht worden sei. Die Autoren skizzieren eine funktionale Differenzierung der Kleinstädte, die in Randlagen Zentrumsfunktionen und im ersten Suburbanisierungsring gewerbliche Funktionen übernähmen. Dazu trete noch die große Zahl derjenigen Kleinstädte, die vor allem als Wohnsiedlungen fungierten. Als Gefahr für die weitere Entwicklung machen die Autoren die kommunalpolitische Zersplitterung aus, da Kleinstädte ihre Interessen meist individuell verfolgten und kaum für gemeinsame regionalpolitische Planungen zugänglich seien.
Der Band macht insgesamt die Entwicklung der Kleinstadt in der Urbanisierung deutlich und kann hier eine Reihe von Thesen aus der Urbanisierungsforschung bestätigen, nuancieren und widerlegen, er sensibilisiert daneben für die aktuellen Probleme, die sich in Südwest- und Ostdeutschland fundamental gegensätzlich darstellen. Schließlich weist er auf die zahlreichen Defizite der Forschung hin. Der Nachdruck, den Margareth Lanzinger im resümierenden Beitrag darauf legt, nicht nur äußere Rahmenbedingungen, sondern auch soziale und kulturelle Mikrostrukturen zu beleuchten, macht deutlich, wo künftige Forschungen sinnvollerweise anzusetzen haben.
Thomas Höpel