Werner Schneiders (ed.): The Enlightenment in Europe / Les Lumières en Europe / Aufklärung in Europa. University and Diversity / Unité et Diversité / Einheit und Vielfalt (= Concepts and Symboles du Dix-huitième Siècle Européen / Concepts and Symbols of the Eighteenth Century in Europe), Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2003, XXIII + 374 S., ISBN 978-3-8305-0370-5, EUR 45,00
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Der Band versammelt eine Reihe von Beiträgen zu verschiedenen Tagungen der European Science Foundation in Deutschland und Frankreich, die sich die Internationalisierung der Aufklärungsforschung zum Ziel gesetzt haben. Mit der Veränderung Europas, insbesondere der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes, soll sich auch die Erforschung der Aufklärungsepoche verändern: weg von der Konzentration auf die "Kernländer" Frankreich, England und Deutschland, weg auch von einem engen Begriff von Aufklärung, der "bestimmte Aufklärungstypen als normative Prototypen" betrachtet (XXI). Stattdessen soll sich das Augenmerk auf nationale und regionale Unterschiede, auf das Verhältnis von Zentrum und Peripherie und auf europaweite Austauschprozesse richten. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass als Tertium Comparationis ein Kern von Gemeinsamkeiten gefunden wird, damit man überhaupt weiß, worüber man Vergleiche anstellt. Deshalb sind dem Band zwei Einleitungsessays von Roland Mortier und Werner Schneiders vorangestellt, die die Einheit in der Vielfalt zu fassen suchen. Mortier versteht die Aufklärung vor allem als eine Epoche, die sich selbst programmatisch als solche begriffen hat, und stellt Zukunftsentwurf und Glücksversprechen, Expansions- und Reformwillen, "sens de l'universel" und die Suche nach der vernunftgemäßen Ordnung in den Vordergrund. Schneiders betont, dass die Aufklärung im 18. Jahrhundert immer nur eine unter anderen Strömungen war, aber eine, die zuerst von Oppositions- und dann von Führungseliten getragen worden sei und der Epoche insgesamt ihre Prägung gegeben habe.
Die Beiträge des Bandes (die meisten in Französisch oder Deutsch) lassen sich grob um einige Leitthemen gruppieren. Am Anfang stehen Fragen der Binnenperiodisierung (Roland Krebs, Michel Delon, Wolfgang Albrecht). Die Mehrzahl der Autoren befasst sich mit einzelnen Ländern: Tadeusz Namowicz schreibt über Mittel-, Ost- und Südeuropa, vor allem über Russland und Polen, Anna Tabaki über die neo-hellenische Aufklärung, Girolamo Imbruglia über Italien, Ernst Wangermann über Österreich, Simone Zurbuchen über die Schweiz, François Lopez über Spanien, Maria Helea Carvalho dos Santos über Portugal, Sven Aage Jørgensen über Dänemark, Sven Björkman über Schweden (genauer: über den Wandel des schwedischen Wortschatzes unter dem Einfluss des Französischen), Máire Kennedy über Irland und Norbert Wascek über Schottland. Den umstrittenen Konzepten der katholischen und der jüdischen Aufklärung widmen sich Sylvaine Reb-Gombeaud und Dominique Bourel.
Einige Aufsätze befassen sich mit sozialen und institutionellen Trägern der Aufklärung: Helmut Reinalter schreibt über Monarchen, Bürger und Bürokraten in Österreich; Christine Lebeau stellt Karl von Zinzendorf als Prototyp der aufgeklärten "administrateurs" und ihres Theorie-Praxis-Verständnisses vor; Dominique Varry berichtet von einem laufenden prosopografischen Forschungsprojekt über die "gens du livre", das heißt Drucker, Verleger und Buchhändler in Lyon; Gérard Laudin skizziert die aufklärerische Geschichtsschreibung an deutschen Universitäten, insbesondere Göttingen. Zwei Autoren wenden sich gegen verbreitete Auffassungen über die Träger beziehungsweise Gegner der Aufklärung: Zum einen stellt Anne Saada (im Anschluss an die Arbeiten von Roland Krebs) fest, dass die Theater in den deutschen Territorien nicht die moralischen Anstalten und Agenten der Aufklärung waren, die sie nach der Theorie hätten sein sollen, sondern überwiegend politisch zahme, konservative und konformistische Unterhaltungsmedien. Zum anderen weist Claude Lauriol darauf hin, dass auch die Kirchen in Frankreich als Träger der französischen Aufklärung in Betracht kommen - und zwar nicht nur die Hugenotten im Untergrund und die Jansenisten, sondern auch die orthodoxe katholische Amtskirche, die immerhin manche Gedanken ihrer Gegner aufgegriffen habe (258). Ob sie das allerdings schon zu einem "Partner der Aufklärung" macht (263), daran sind Zweifel erlaubt.
Eine weitere Gruppe von Beiträgen beschäftigt sich mit einzelnen Aufklärern, die bereits vielfältiges Forschungsinteresse auf sich gezogen haben: Christophe Losfeld stellt einmal mehr die Reiseberichte von Joachim Heinrich Campe und Franz Anton von Halem aus dem revolutionären Frankreich vor; Peter-Eckhard Knabe würdigt Albrecht von Haller als Universalgelehrten. Jean Mondot befasst sich mit der moralischen Aufwertung des Handels als einer Metapher für friedlichen, freiheitlichen, Glück bringenden sozialen Austausch schlechthin in den Schriften von Raynal und Forster. Werner Schneiders schließlich beschreibt die ambivalente Gestalt Justus Mösers als Aufklärer und Gegenaufklärer zugleich: Mit seiner Verurteilung von Kosmopolitismus und Universalismus sowie seiner Verteidigung von Tradition und Vorurteil habe er nur die notwendige Kritik an den Folgelasten des Fortschritts artikuliert und damit den endlosen Prozess der Aufklärung auf diese selbst angewandt.
Die Beiträge des Bandes sind von sehr unterschiedlicher Qualität. In der Mehrzahl präsentieren sie keine neuen Forschungserträge, sondern resümieren Bekanntes. Als Einführungen in das jeweilige Thema eignen sich viele von ihnen allerdings auch nicht, weil sie nicht den aktuellen Forschungsstand referieren und die entsprechenden Hinweise zum Weiterlesen oft fehlen. Die meisten Länderbeiträge lassen aufgrund ihrer Kürze insgesamt weniger die Vielfalt als die Einheit der Aufklärung hervortreten. An der Peripherie Europas konzentrierte man sich danach vor allem auf das praktisch-politische Reformpotenzial, die Bewegung wurde zuerst von regierungsnahen Eliten getragen, im letzten Jahrhundertdrittel popularisiert und schließlich politisch radikalisiert, insbesondere da, wo sie sich mit dem Kampf gegen eine fremde Herrschaft verband. Überall wurden offenbar dieselben Klassiker gelesen, vor allem Voltaire, Montesquieu, Rousseau, überall wurden Sozietäten gegründet, überall wurden Zeitschriften publiziert, und man erfährt die zahlreichen Namen all derjenigen, die dabei in den jeweiligen Ländern die wesentlichen Rollen spielten.
Nur selten allerdings werden klare Fragen formuliert, etwa: Wann und inwiefern ist es sinnvoll, von einer nationalen Aufklärungsbewegung zu sprechen? Schon dann, wenn einzelne Schriftsteller, Wissenschaftler oder Bürokraten des betreffenden Landes sich als Mitglieder der gesamteuropäischen Gelehrtenrepublik verstanden, dieselben Bücher lasen und auf Reisen oder in Korrespondenzen mit denselben europaweiten Zirkeln verkehrten, wie etwa in Irland? Oder vielmehr erst dann, wenn gezeigt werden kann, dass spezifische strukturelle Umstände die Entstehung und Verbreitung aufklärerischer Konzepte begünstigten, wie in Schottland?
Eine präzise Fragestellung formuliert etwa Sylvaine Reb-Gombeaud am Beispiel der Reformpolitik des Salzburger Fürsterzbischofs Colloredo: Ist unter "katholischer Aufklärung" im Reich im Wesentlichen die verspätete Rezeption der norddeutsch-protestantischen Vordenker zu verstehen, zum Beispiel der Reichspublizistik, Wolffs und Kants? Oder lassen sich - dafür plädiert die Autorin - katholische Spezifika ausmachen, etwa in der bewussten Fortsetzung des tridentinischen Erbes? Eine ganz ähnliche Frage stellt Dominique Bourel in Bezug auf die Haskala: War das nur die Bewegung einer assimilationsbereiten, säkularisierten Minderheit, die die protestantische Aufklärung rezipierte und mit dem Judentum kaum mehr als den Namen gemein hatte? Oder gab es nicht vielmehr auch eine "fromme" Haskala, die den jüdischen Glauben und die jüdische Praxis mit den gewandelten Anforderungen zu vereinbaren und zugleich nach außen zu verteidigen suchte? Die Gegenüberstellung von assimilierter Haskala hier und starrer Orthodoxie dort erweist sich jedenfalls als zu einfach - ganz ähnlich wie etwa eine schlichte Gegenüberstellung von Aufklärung und lutherischer Amtskirche in Dänemark oder von Aufklärung und katholischer Amtskirche in Bayern.
Eine mögliche Perspektive für einen systematischen Vergleich verschiedener Aufklärungs-Varianten schlägt Simone Zurbuchen in ihrem Beitrag über die Schweiz vor: Welche Rolle spielte es für die jeweilige nationale Prägung, ob die Aufklärer Bürger eines als republikanisch verstandenen Gemeinwesens oder Untertanen eines aufgeklärten Despoten waren? Sie plädiert für eine stärkere Betonung der Traditionslinie zwischen "klassischem" und "modernem" Republikanismus - erstaunlicherweise ohne Peter Blickle zu zitieren, der dieses Anliegen bekanntlich schon seit geraumer Zeit vertritt. Zugleich stellt sie allerdings für die Schweiz fest, dass viele der Aufklärer dort nicht von dem tugendhaften und freiheitlichen Charakter ihres traditionellen kommunalen Republikanismus überzeugt waren, sondern sich Vernunft und Fortschritt vielmehr von aufgeklärten Despoten versprachen - je absoluter, desto besser.
Betrachtet man die Beiträge des Bandes im Ganzen, so ist zu bedauern, dass es - wie so oft - keine klare gemeinsame Fragestellung gab und keine präzisen Vergleichskriterien vorgegeben waren. Die fruchtbare und kooperationsfördernde Wirkung internationaler Tagungen soll nicht in Abrede gestellt werden - aber vielleicht sollte man etwas sorgfältiger auswählen, was davon im Druck dokumentiert werden sollte und was nicht.
Barbara Stollberg-Rilinger