Ulrich Sinn: Athen. Geschichte und Archäologie, München: C.H.Beck 2004, 117 S., 21 Abb., 2 Pläne, ISBN 978-3-406-50836-3, EUR 7,90
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Der renommierte Olympiaarchäologe Ulrich Sinn, Professor an der Universität Würzburg, hat in der Reihe "C.H. Beck Wissen" ein Büchlein über die Geschichte und Archäologie des antiken Athen vorgelegt.
Dass der knappe Platz (120 Seiten), den die Konzeption der Reihe vorschreibt, dem Autor die Hände bindet, ist klar: Sinn musste bei der Bewältigung des substanzreichen Themas streng selektiv vorgehen. Niemand wird an etwaigen Lücken Anstoß nehmen können; für die archaischen Akropoliskoren etwa oder die athenische Münzprägung war schlicht kein Raum mehr; die Scherben des Ostrakismos waren ohnehin schon von Peter Funke in seinem Buch "Athen in klassischer Zeit" in derselben Reihe behandelt und abgebildet worden. Die Auslese, die Sinn aus der Fülle des Stoffes trifft, kann mit Fug und Recht als geglückt bezeichnet werden: Für alle Epochen der Antike wählt er repräsentative Monumente oder Monumentgruppen aus, unter denen etliche auch durch Fotografien oder Modellzeichnungen illustriert werden, erörtert sie in der gebotenen Kürze und spannt zwischen ihnen den historischen Prospekt aus, der die Konditionierung der archäologischen Hinterlassenschaft deutlich werden lässt. Dass Sinn dem vieltraktierten 5. Jahrhundert vor Christus keine 20 Seiten widmet, dafür aber in die mykenische Epoche zurückgreift und über die Spätantike einen Ausblick in die Moderne eröffnet, tut seiner Darstellung sicher keinen Abbruch, im Gegenteil.
Sinn geht nicht topografisch vor (was in einem archäologisch orientierten Buch immerhin möglich gewesen wäre), sondern chronologisch. Dabei sucht er die Epochen, die sich in der Kapitelgliederung niederschlagen, in machtpolitische Kategorien zu fassen. So entstehen etwas artifizielle Kapitelüberschriften, an Kapitel III "Auf dem Höhepunkt der Macht: 500-404 vor Christus" schließt zum Beispiel Kapitel IV mit dem gestelzten Titel "Der Gewinn aus dem Verlust der Macht: 404-88 vor Christus" an.
Es ist erfreulich, dass Sinn im Rahmen seiner breit gestreuten Stoffauswahl auch weniger Bekanntes in den Blick rückt, etwa die mykenische - durch eine Treppenanlage erschlossene - Felsenquelle auf der Akropolis, das Theater in Thorikos, das Philopappusmonument auf dem Musenhügel oder die "Post-Herulermauer", die den spätantiken Existenzkampf der Stadt illustriert. Nicht nur die Architektur kommt zu ihrem Recht, sowohl der Vasenmalerei als auch der Plastik weist Sinn den gebührenden Stellenwert zu: Anhand der Dipylon-Amphore zeigt er die handwerklichen Standards und die Rolle des Totenkults im Athen des 8. Jahrhunderts vor Christus auf; das Platonporträt (Abb.12: leider nicht die qualitätvolle Replik der Münchener Glyptothek, sondern eine plumpe Herme aus Berlin) verdeutlicht das ungebrochene Ansehen der Philosophenschulen in Athen.
An einigen Stellen hätte Sinns Darlegungen etwas mehr Stringenz gut getan: So etwa wenn er Kleisthenes einmal politische Ideale klar abspricht (31) und zwei Seiten weiter nachdrücklich betont, die kleisthenische Neuordnung sei der "Idee der Isonomie [...] verpflichtet" gewesen; wenn er die Intensität des Silberbergbaus in Attika (Laurion) während des 6. Jahrhunderts vor Christus zunächst (34) marginalisiert und gleich darauf (36) in jenem Jahrhundert die große Aufbruchsphase im Abbau der Silberressourcen ansetzt; oder wenn er den Parthenonfries nicht im Zusammenhang mit dem Tempel behandelt, zu dem er gehört, sondern dem Unterkapitel über das Hephaisteion (51) zuordnet. Gerade der Laie, für den das Buch ja (in erster Linie) gedacht ist, fühlt sich da manchmal vom Autor im Stich gelassen. - Bei der Erklärung von Fachtermini hingegen verfährt Sinn generell mit großer Umsicht, die Kenntnis des Begriffs "Megaron" setzt er indes bei seinen Lesern immer noch voraus (16).
Problematisch ist es, wenn der Autor in einem Buch, das sich an ein breites Publikum richtet, dezidiert von der wissenschaftlichen communis opinio abweicht, ohne die Differenz deutlich zu machen. Die Charakterisierung des Perikles und seines Kreises etwa ist nicht frei von Einseitigkeiten: Der Stratege wird - ähnlich wie schon in den Äußerungen mancher Zeitgenossen - zum Hauptverantwortlichen für den Peloponnesischen Krieg gestempelt (47). Der politische Spielraum der Aspasia dehnt sich so weit, dass sie Einfluss auf die Neugestaltung der Akropolis nimmt (41). Die Politik des Perikles sei von einem klaren Bekenntnis zum Ioniertum getragen gewesen, ein Trend, der sich auch in architektonischen Stilelementen an der Akropolis (Parthenon und Propyläen) widerspiegele (44).
Das bedauerliche Hauptmanko des Buches indes liegt in einer viel zu flüchtigen Schlussredaktion, durch die weit mehr als ein Dutzend Irrtümer und Fehler stehen geblieben ist. Nur einige seien hier aufgezählt: Schon im Vorspann (2) muss irritieren, dass sich unter den kulturgeschichtlichen Repräsentanten Athens auch Plotin findet, der mit der Stadt unmittelbar nichts zu tun hat. Sulla wird im Zusammenhang der Belagerung Athens 86 vor Christus anachronistisch als Diktator tituliert (47). Der römische Handelsmarkt liegt nicht östlich vom Turm der Winde (68), sondern westlich. In seiner Grabinschrift auf dem Musenhügel wird Philopappus nicht als athenischer Bürger gekennzeichnet (77), sondern als römischer Magistrat und Nachkomme der kommagenischen Königsdynastie (Inscriptiones Latinae Selectae 845); aus dem Todesdatum seines Urahnen Dareios wurde durch einen Zahlendreher 468 vor Christus (77, 111). Der Geschichtsschreiber Dexippos, der 267 nach Christus die Abwehr gegen die Heruler organisierte, hieß mit vollem Namen P(ublius) Herennius Dexippos und nicht "Paulus Herrenius Dexippos" (83, 111). Im Anhang, wo sich unter anderem eine chronologische Übersicht, ein knappes Literaturverzeichnis, ein Sach- und Ortsregister sowie ein Personenverzeichnis (mit Lebensdaten) finden, werden etwa der Bau der "Langen Mauern" auf Themistokles zurückgeführt (97; anders Thukydides 1,107,1) und der Rat der 500 mit der Ekklesia identifiziert (98, 106). - Symptomatisch für die Nachlässigkeit, auf die über die genannten hinaus noch etliche weitere Mängel im Detail (auch in der Orthografie) zurückzuführen sind, ist ein defizitärer Seitenverweis ("S.?"), der nicht mehr korrigiert wurde (70).
Ein weiterer Kritikpunkt sei hier nur beiläufig erwähnt, zumal er inzwischen auf viele altertumswissenschaftliche Publikationen zutrifft: Auf bewährte Übersetzungen antiker Texte zurückzugreifen ist eine Selbstverständlichkeit, aber dafür verdienen die Übersetzer auch unseren Dank. Die Anlehnung von Sinns Thukydidesauszügen (48 f.) an die Übersetzung von Georg Peter Landmann ist eindeutig. Im Anhang wäre noch genügend Platz gewesen, ihn namentlich zu erwähnen.
Fazit: Sinns Büchlein über Athen beruht zwar auf einer gelungenen Gesamtkonzeption; zugleich vermag es durchaus, instruktive Einblicke in das archäologische Erbe und in die antike Geschichte der Stadt zu vermitteln. Jedoch wurde die Korrektur des Manuskriptes verfrüht abgeschlossen, sodass das Buch gerade dem Laien nur bedingt empfohlen werden kann.
Ulrich Huttner