Stephan Fuchs: "Vom Segen des Krieges". Katholische Gebildete im Ersten Weltkrieg. Eine Studie zur Kriegsdeutung im akademischen Katholizismus (= Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 61), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, VII + 372 S., ISBN 978-3-515-08316-4, EUR 60,00
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Die Forschungen zum Ersten Weltkrieg haben in jüngster Zeit nicht nur durch neue Gesamtdarstellungen, sondern auch durch die Durchdringung der Mentalitäten teilnehmender und betroffener Personengruppen eine Bereicherung erfahren. In die Reihe der an der Universität Tübingen laufenden Untersuchungen zu Kriegserfahrungen in der Neuzeit fügt sich die vorliegende Dissertation, die den methodischen Vorgaben des Sonderforschungsbereichs 437 folgt, gut ein. Sie behandelt die in Studierenden- und Akademikerkorporationen zusammengeschlossenen Katholiken. Auf den ersten Blick handelt es sich zwar um eine numerisch kleine Gruppe, die zu Kriegsbeginn etwa 16.000 katholische Studenten umfasste. Doch im Querschnitt lassen sich, so die These des Autors, auch aus dieser relativ geringen Anzahl von Personen die Mentalitäten des katholischen Bevölkerungsteils gegenüber dem Ersten Weltkrieg heraus destillieren.
Sieben katholische Akademikerverbände respektive ihre jeweiligen Publikationsorgane untersucht Stephan Fuchs für die Zeit des Ersten Weltkriegs. Neben der Akademischen Bonifatius-Einigung sind das die drei großen Studentenverbindungen CV (Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen), KV (Kartellverband, Verband der katholischen Studentenvereine Deutschlands) und Unitas (Verband der wissenschaftlichen katholischen Studenten-Vereine Unitas), das von Carl Sonnenschein geleitete Sekretariat Sozialer Studentenarbeit, der Verband der katholischen Studentinnen-Vereine Deutschlands sowie als kleinste Organisation der Hochlandverband der katholischen neustudentischen Verbindungen. Alle nahmen in ihren Mitgliederzeitschriften und den eigens für die soldatischen Mitglieder zusammengestellten Feldgaben auf die Kriegssituation Bezug. In fünf "Blicken" analysiert Fuchs die durchaus differenziert akzentuierte Haltung der Korporationen.
Den Deutungsmustern des Krieges spürt der "Blick nach innen" nach (71-194). Dabei gilt ein erster Blick der Haltung katholischer Akademiker zum Kriegsausbruch 1914 (65-70). Die bürgerliche Kriegsbegeisterung wurde auch von den katholischen Verbänden geteilt. Das "Augusterlebnis" wurde allerdings nur partiell glorifiziert.
Im Mainstream befanden sich dann doch die meisten Katholiken während des Krieges. Auch für sie war der Krieg eine nationale Angelegenheit. Die Akademiker überboten sich in der Auflistung ihrer nationalen Zuverlässigkeit. In Abwertung der Kriegsgegner wurde die Notwendigkeit militärischer Initiative Deutschlands begründet, was vor allem gegenüber der Rechtfertigung des Angriffs auf das katholische Belgien mancher Kunstgriffe bedurfte. Die immer noch unter dem Kulturkampf-Trauma leidenden Katholiken sahen im Weltkrieg eine Gelegenheit, ihre Identifizierung mit Kaiser und Reich herauszustellen. Von Geburtsanzeigen bis zur Gefallenenehrung reichte die Palette, um die nationale Zuverlässigkeit der Soldaten zu betonen. Zumindest bis 1916 ging damit eine große Siegeszuversicht einher. Durchhalteparolen waren aber, mit Ausnahme von KV und CV, eher selten.
Nicht die katholischen Figuren dominierten folglich als Vorbilder katholischer Akademiker, sondern die gleichen nationalen Personen wie bei den protestantischen Glaubensgenossen. Wilhelm II., Hindenburg und Bismarck wurden als Vorbilder in Berichten, Briefen und Gedichten verherrlicht, bei Bismarck allerdings verbunden mit einem breiten Spektrum der Meinungen von Verehrung bis zu Distanzierung. Erstaunlich ist der Befund des Autors, dass Papst Benedikt XV. eher distanziert behandelt wurde, vermutlich wegen seiner Friedensbemühungen. Dagegen bestand kein Bedenken, den Erzengel Michael als "deutschen Heiligen" für die Kriegsziele in Anspruch zu nehmen, aber auch mittelalterliche Heilige wie Bonifatius und Elisabeth von Thüringen. Sogar die historischen Referenzpunkte unterschieden die Katholiken nicht; napoleonische Befreiungskriege und der Krieg gegen Frankreich mit der Reichsgründung von 1870 spielten eine deutlich größere Rolle als das "katholische Mittelalter" mit deutscher Hegemonie. Dieser Nationalismus bedurfte der Begründung. Hierfür zogen die Akademiker Bibelzitate ("Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist") ebenso heran wie Bekenntnisse zur Identifikation des Deutschen mit "treu" und "echt". Sympathien galten am ehesten noch den Flamen, während England, Frankreich und Russland in bildreichen Stereotypen mit Feindschaft und Hass bedacht wurden. Der Antisemitismus aber - und hiermit korrigiert Fuchs den gegenwärtigen Forschungskonnex - bildete nur eine Randerscheinung.
Die Auswirkungen des Krieges behandelt Fuchs im dritten Abschnitt, "Blick nach außen" (195-219). Die katholischen Studenten erwarteten sich vom Krieg eine sittliche Erneuerung, eine Neubesinnung auf das Deutschtum und eine neue Einigkeit, mehr als die nicht-katholischen Studenten allerdings auch eine großdeutsche Komponente. Die Weltgeltung Deutschlands verstanden denn auch die meisten Katholiken als militärisch und politisch, nicht in erster Linie geistig-kulturell, wie sie auch für eine gesellschaftliche Neuordnung nach dem Krieg nur wenige Vorstellungen entwickelten.
Wie der Krieg den "Blick nach oben" (220-264) zu lenken vermochte, ist Thema des vierten Abschnitts. Die Akademiker erhofften sich durch den Krieg eine religiöse Erneuerung in Deutschland. Die Trennung von Kirche und Staat in Frankreich galt als mahnendes Beispiel religiöser Gleichgültigkeit. Dem gegenüber wurde in den Zeitschriften der katholischen Akademiker der Krieg als Mittel der göttlichen Vorsehung bezeichnet, bei dem Gott selber oberster Schlachtenlenker sei, natürlich aufseiten der Deutschen. Immer wieder deuteten die Artikelschreiber den Krieg als Gottesdienst und verglichen das Sterben auf den Schlachtfeldern mit dem Märtyrertod, durch den sie dem Sterben Christi nahe kommen könnten. Kaum eine Frage, ob es sich um einen gerechten Krieg im Sinn der kirchlichen Friedensethik handle. Vor allem für die katholischen Theologiestudenten war die religiöse Deutung selbstverständlich, unterfüttert durch biblische Semantik und religiöse Verklärung.
Doch es gab auch einen anderen Blick auf den Krieg (265-297), der ebenfalls in den Akademiker-Publikationen angesprochen wurde. Der Krieg wurde als eintönig und schrecklich empfunden. Besonders ab 1917 nahmen die Äußerungen zu, die eine Friedenssehnsucht aussprachen, vor leidenschaftlichem und unkritischem Nationalismus warnten. Doch blieben es immer nur wenige Stimmen, die gegen den unmenschlichen Krieg das Humanitätsideal setzten und ihn als Übel beklagten. Durchgängig waren lediglich die Besorgnisse über sittliche Verfehlungen der Soldaten an der Heimatfront und die Sorge um einen Gleichklang der inneren Haltungen zwischen Heimat und Feld. Wenige Stimmen sahen die religiösen Defizite auf deutscher Seite, deren Auswirkungen nach Kriegsende noch nicht erforscht sind.
Für die katholischen Intellektuellen war es - um den provozierenden Titel aufzugreifen - alles andere als segensvoll, den Ersten Weltkrieg fast ausschließlich als nationale Angelegenheit zu bejubeln. Diese Haltung versperrte ihnen das Verständnis für die Friedenbemühungen ihres Papstes Benedikt XV. Sie machte sie auch weithin unfähig für die demokratische Ordnung nach dem Krieg. Stephan Fuchs arbeitet die Hauptmeinungen und Widersprüche detailliert heraus, auch mithilfe der im Anhang abgedruckten Illustrationen. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Studenten- und Akademikervereinigungen werden gut sichtbar. Gewonnen hätte die Studie noch durch eine prosopografische Aufarbeitung zumindest der wichtigsten Autoren. Personen wie Max Pribilla, Engelbert Krebs, Bernhard Bartmann, Joseph Mausbach oder Gerta Krabbel spielten auch in der Weimarer Republik für die Selbstvergewisserung des deutschen Katholizismus eine wichtige Rolle. Die Vernetzung der Untersuchung der Kriegszeit mit der nachfolgenden Periode würde Kontinuitäten und Brüche aufzeigen.
Joachim Schmiedl