Thomas Keller: Deutsch-französische Dritte-Weg-Diskurse. Personalistische Intellektuellendebatten in der Zwischenkriegszeit (= Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt; Bd. 39), München: Wilhelm Fink 2001, 437 S., ISBN 978-3-7705-3504-0, EUR 51,60
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Auch nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten 1989/90 und angesichts des scheinbar unaufhaltsamen weltweiten Siegeszuges von Marktwirtschaft und Demokratie haben Ideen eines "Dritten Weges" kaum etwas von ihrer Faszination verloren. Heute sind damit aber nicht mehr ein "deutscher Sonderweg", ein "neues Mitteleuropa" oder ein "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" gemeint, sondern vor allem Konzepte einer "alternativen Modernisierung", die sich gegen eine wirtschaftliche, politische und kulturelle Globalisierung nach amerikanischem Muster richten, ohne jedoch prinzipiell technik- oder entwicklungsfeindlich zu sein. Gleichwohl bleibt der "Dritte Weg" ein "höchst schillernder" und wenig trennscharfer Begriff [1], dessen aktuelle Verwendung - etwa durch die europäischen Sozialdemokraten - sehr problematisch ist. [2] Das zeigt nicht zuletzt die Analyse der bis heute fortwirkenden Dritte-Weg-Diskussionen der 1920er- und 1930er-Jahre, die maßgeblich in Deutschland und Frankreich geführt wurden. Dabei waren Dritte-Weg-Bewegungen nicht nur auf Vertreter der "Konservativen Revolution" beschränkt, sondern umfassten auch "neosozialistisch/neoradikale" und "surrealistische" Gruppen. Eine weitere Strömung bildeten die so genannten "Personalisten", denen Thomas Keller mit seiner Studie über "Deutsch-französische Dritte-Weg-Diskurse. Personalistische Intellektuellendebatten der Zwischenkriegszeit" eine umfassende Untersuchung gewidmet hat.
Die Personalisten lehnten "die bürgerliche Gesellschaft, die kapitalistische und zentralstaatlich geplante Wirtschaft, den hedonistischen, unverantwortlichen und atomisierenden Individualismus sowie den alle Individualität auslöschenden Kollektivismus" ab und vertraten die Auffassung, dass "'die ökonomische und soziale Maschine [...] für die Person existieren [müsse] und nicht die Person für die ökonomische und soziale Maschine'" (9). Sie träumten aber auch nicht von einer vergangenen, besseren Zeit, sondern entwickelten eigene Vorstellungen von Modernität.
Thomas Keller stellt sich in seiner Arbeit zum einen die Aufgabe, die Geschichte und die Theorieentwicklung der Personalisten in Deutschland und Frankreich ausführlich zu rekonstruieren. "Die zweite Aufgabe besteht darin, die grenzüberschreitenden Dritte-Weg-Konzepte zum Anlass zu nehmen, systematisch eine interdisziplinäre deutsch-französische Interaktionsanalyse zu versuchen. Eine solche Analyse betritt methodologisch Neuland. Sie betreibt nicht nur Ideengeschichte, sondern erfasst soziologische, philosophische, anthropologische und literarische Diskurse und verknüpft die Soziologie von Intellektuellengruppen mit der Beschreibung von Transfers von Wissen, die durch Rezeption, Austausch und Emigration zustande kommen" (12).
Diesem weit reichenden Anspruch wird Thomas Keller durchaus gerecht. Zunächst gibt er einen Überblick über die wichtigsten Varianten "Dritter Wege", die in der Zwischenkriegszeit in Deutschland und Frankreich diskutiert wurden, und macht vor diesem Hintergrund den besonderen Charakter des Personalismus deutlich (Kapitel I). Dann beschreibt er Ursprünge und Vorbilder personalistischen Denkens (Kapitel II) und widmet sich den zahlreichen "deutsch-französischen Anschlußstellen" (Kapitel III). Eine wichtige Verbindung zwischen den Verfechtern des Personalismus in beiden Ländern war die gemeinsame Zugehörigkeit zur "nonkonformistischen Generation" (Kapitel IV). Diese in Deutschland auch "Kriegsjugendgeneration" genannte "Generationsgemeinschaft der Krise" (161) zeichnete sich dadurch aus, dass sie - um 1905 geboren - zwar nicht aktiv am Ersten Weltkrieg teilgenommen, ihn aber in der Heimat bewusst miterlebt hatte und nach 1918 eine antiliberale und antibürgerliche Haltung einnahm, da sie durch den Krieg und nicht mehr durch die Werte der bürgerlichen Welt vor 1914 geprägt worden war.
Für Thomas Keller sind die Personalisten "Teil einer neuartigen europäischen revolutionären Intelligenz der Zwischenkriegszeit" (16). Er stellt jedoch ein Ungleichgewicht zwischen Frankreich und Deutschland fest: Während in Frankreich in den 1930er-Jahren eine größere personalistische Bewegung entstand, gab es in Deutschland zwar einzelne einflussreiche personalistische Intellektuelle, aber keine vergleichbaren personalistischen Zusammenschlüsse. So liegt der Schwerpunkt des Buches von Thomas Keller auf der Entwicklung in Frankreich und auf der Feinanalyse der beiden wichtigsten personalistischen Gruppen "L'Ordre Nouveau" und "Esprit".
"L'Ordre Nouveau" (Kapitel V) wurde 1931 unter Federführung von Alexandre Marc, Denis de Rougemont und Arnaud Dandieu gegründet und veröffentlichte von Mai 1933 bis September 1938 die gleichnamige Zeitschrift. Die Mitglieder von "L'Ordre Nouveau " vertraten einen "föderalistischen Personalismus" (231) und gaben im Sinne des Subsidiaritätsprinzips der Region den Vorzug gegenüber dem Nationalstaat, ohne aber den Nationalstaat ganz abzulehnen. Darüber hinaus plädierten sie auf wirtschaftlichem Gebiet dafür, ein Höchstmaß der eintönigen, nicht-schöpferischen, entfremdeten Industriearbeit durch Maschinen erledigen zu lassen und den Rest nicht nur dem Proletariat aufzubürden, sondern im Rahmen eines "Zivildienstes" gleichmäßig auf alle Staatsbürger zu verteilen.
In enger Beziehung, aber häufig auch in scharfer Konkurrenz zu "L'Ordre Nouveau" stand die 1932 von Emmanuel Mounier ins Leben gerufene Gruppe "Esprit" (Kapitel VI), deren Zeitschrift gleichen Titels auch heute noch erscheint und die intellektuelle Debatte in Frankreich prägt. "Esprit" entwickelte das Konzept eines "gemeinschaftlichen Personalismus", der auf die Verstaatlichung der Produktionsmittel im Rahmen einer "révolution communautaire" hinauslief und die Macht des Parlaments zu Gunsten der Regierung und eines rechtsprechenden "Conseil Suprême" begrenzen sollte (295 f.).
"L'Ordre Nouveau" und "Esprit" führten untereinander lebhafte Diskussionen und waren durch private Beziehungen, Veröffentlichungen, Vortragsreisen und Ähnliches auch mit anderen personalistischen Gruppen und einzelnen Intellektuellen in Frankreich und Deutschland verbunden. Thomas Keller geht diesen Netzwerken und Austauschprozessen der 1920er- und 1930er-Jahre mit großer Detailgenauigkeit nach und spannt den Bogen schließlich bis zur "Pluralisierung des Personalismus" (Kapitel VII) nach 1945: "ON wird zur Keimzelle des europäischen Föderalismus. Esprit verstärkt zwischen 1944 und 1950 den Philokommunismus und bleibt ein Pfeiler des Linkskatholizismus, der an der Modernisierung Frankreichs teilnimmt" (356).
Insgesamt zeugt Thomas Kellers Buch von großer Sachkenntnis, orientiert sich am neuesten Forschungsstand und ist auf einer sehr breiten Quellen- und Literaturgrundlage geschrieben. So wird es sicher Maßstäbe setzen und auf absehbare Zeit das Standardwerk zum Personalismus in Frankreich und Deutschland in der Zwischenkriegszeit bleiben. Ob es aber neben den auf Geistes- und Ideengeschichte spezialisierten Forschern auch dem allgemein interessierten Historiker oder einer weiteren Öffentlichkeit von Nutzen sein wird, ist fraglich. Einen geeigneten "Einstieg" in das Thema bietet es ganz sicher nicht. Aber auch dem geduldigen Leser geht in der Vielzahl der Belege und Verweise oft die Übersicht verloren.
Man hätte am Ende auch eine noch prägnantere Antwort auf die Frage erwartet, wie weit bei den Personalisten nun alles in allem die Ablehnung des parlamentarischen Systems der Dritten Republik beziehungsweise der Weimarer Demokratie ging und in welchem Verhältnis dazu ihre Kritik an Nationalsozialismus und Kommunismus stand. Thomas Kellers Studie zeigt ja nicht zuletzt, dass viele französische Personalisten nach 1940 relativ schnell den Weg des Widerstandes gegen die deutsche Besatzung wählten, andere sich aber aus der gleichen Überzeugung heraus von der Ideologie der "Révolution nationale" angezogen fühlten und dem Vichy-Regime dienten. Das mag nicht überraschen, denn eine ambivalente Haltung zu Demokratie und Diktatur kennzeichnete die meisten "Dritte-Weg-Diskurse" der Zwischenkriegszeit. Eine genauere Analyse dieses Aspekts wäre aber hilfreich bei der Beurteilung aller neuen "Dritten Wege", die sich in der einen oder anderen Form auf das personalistische Erbe berufen.
Anmerkungen:
[1] Alexander Gallus / Eckhard Jesse: Was sind Dritte Wege? Eine vergleichende Bestandsaufnahme, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 16-17 / 2001, 6-15, 15 (http://www.bpb.de/publikationen/3L92WA,0,0,Was_sind_Dritte_Wege.html).
[2] Vgl. Anthony Giddens: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt am Main 1999.
Christian Scharnefsky