Rezension über:

Christian Lenz / Barbara Hardtwig / Andrea Pophanken u.a. (Bearb.): Deutsche Künstler von Marées bis Slevogt (= Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek München, Gemäldekataloge), München: Hirmer 2003, 3 Bde., insg. 953 S., 1076 Abb., ISBN 978-3-7774-9780-8, EUR 199,00
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Rezension von:
Doris H. Lehmann
Köln
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Doris H. Lehmann: Rezension von: Christian Lenz / Barbara Hardtwig / Andrea Pophanken u.a. (Bearb.): Deutsche Künstler von Marées bis Slevogt, München: Hirmer 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 11 [15.11.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/11/5821.html


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Christian Lenz / Barbara Hardtwig / Andrea Pophanken u.a. (Bearb.): Deutsche Künstler von Marées bis Slevogt

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Mit Freude nimmt der Kunsthistoriker den - auf Grund seiner Teilung in drei Einzelbände - handlichen 8. und abschließenden Band der "Gemäldekataloge der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen" zur Hand; präsentiert wird der Bestand an Werken deutscher Künstler in der Neuen Pinakothek München. Bearbeitet wurde dieser maßgeblich von Christian Lenz, dem ehemaligen Konservator der Neuen Pinakothek für die Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Katalog erhebt den Anspruch, "auch eine Art Lexikon" zur deutschen Kunst zwischen etwa 1860 und 1920 zu sein; der Klappentext verspricht neue Ergebnisse auf der Basis umfangreicher Recherchen, Informationen zu bislang kaum bekannten Künstlern und schließlich "Aktualität", da auch jüngste Publikationen ausgewertet seien.

Im Aufbau entspricht der Bestandskatalog den Anforderungen an ein Werkzeug der wissenschaftlichen Forschung: etwa 1100 Gemälde wurden erfasst und sind durch Schwarz-Weiß-Abbildungen guter Qualität illustriert. Die Künstler sind alphabetisch abgehandelt und ihre Gemälde innerhalb des Œuvres chronologisch geordnet. Die Maler werden mittels einer Kurzbiografie vorgestellt, diese wird ergänzt durch eine Auswahl-Bibliografie, welche Künstlerschriften und -briefe, Werkverzeichnisse, Ausstellungen und Literatur enthält. Zu den Werken selbst vermerkt der Katalog den materiellen Befund und die Provenienz, er erläutert den Bildgegenstand und differenziert die Bibliografie in die Bereiche Werkverzeichnisse, Museumskataloge, Ausstellungen und Literatur. Die Nutzung wird erleichtert durch ein dem 3. Band angehängtes Personen-, Orts- und Begriffs-Register sowie einen jeden Band abschließenden, nach Inventarnummern gegliederten Index, welcher allerdings keinen Verweis auf die Seitenzahl enthält.

Dies klingt zunächst nach einem unverzichtbaren Handwerkszeug für jeden, der sich mit der deutschen Malerei der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beschäftigt, und so schaut man denn begierig auf die Namen, mit denen dieses opus magnum lockt: Lovis Corinth, Anselm Feuerbach, Wilhelm Leibl, Max Liebermann, Hans von Marées, Carl Schuch, Max Slevogt, Franz von Stuck und Wilhelm Trübner repräsentieren die Sammelleistung der Neuen Pinakothek, welche stolz und zu Recht darauf verweist, auch zahlreiche Hauptwerke präsentieren zu können.

Reinhold Baumstark bekräftigt in seinem Vorwort, durch das reiche Wissen, welches den Mitarbeitern des Kataloges die Herausgabe der vorangegangenen Bände beschert habe, sei es gelungen, den vorliegenden Katalog als Arbeitsmittel zu optimieren. Darunter versteht Baumstark insbesondere den Verzicht auf Epochen- oder Schulbegriffe und die "unvermittelte" Reihung der Werke. Da erscheint es denn auch vernünftig, dass die Literatur nicht mehr vollständig, sondern nur in dem Maße angegeben sein soll, "wie es von Belang ist". Ein Totalitätsanspruch ist auch in der Tat nicht handlich, und so freut sich der Forscher auf von Fachleuten sinnvoll zusammengestellte Bibliografien, welche die neuesten Forschungsergebnisse beinhalten und einen schnellen und guten Einstieg ermöglichen.

Doch die Verwendung als praktisches Arbeitsmittel offenbart diverse Schwächen des Katalogs: Die Differenzierung der vorangegangenen Bände in Themenkataloge bedingt im Rahmen einer rein zeitlichen und nationalen Eingrenzung in dem nun vorgelegten Werk Überschneidungen. So vermisst man bei der deutschen Malerei zwischen 1860 und 1920 nicht nur Carl Theodor von Piloty und Franz von Lenbach. Diese "Unvollständigkeit" wird nicht durch einen Verweis auf die bereits erfolgte Abhandlung in Band 6 [1] legitimiert, wie dies angemessen gewesen wäre, sondern stillschweigend übergangen.

Zu Hans von Marées enthält die Bibliografie Publikationen bis in das Jahr 2000. Man hält den Autoren also zu Gute, dass Roman Zieglgänsbergers Erkenntnisse über "Hans von Marées als Bildnismaler" [2] von 2001 nicht fehlen, weil sie "nicht von Belang" seien, sondern weil sie nach dem Redaktionstermin erschienen. Eine nähere Betrachtung der Literaturliste wirft aber eine Sinnfrage auf: Wenn man doch offensichtlich die Literaturlisten zu kürzen sucht, warum führt man dann, nachdem man bereits einen Ausstellungskatalog aufgeführt hat, noch gesondert acht Beiträge daraus an? Bei Wilhelm Trübner jedenfalls hätte die Literaturliste ohne die sechs Katalogbeiträge recht mager ausgesehen (188). Wendet man sich dem berühmten "Doppelbildnis Marées und Lenbach"(184ff.) zu, so vermisst man auch Blochmanns Untersuchung zur Selbstdarstellung deutscher Maler der Gründerzeit von 1991. Konsequenterweise hielt man die Untersuchungen der Selbstbildnisse wohl auch in Hinblick auf Anselm Feuerbach für "nicht von Belang". [3] Die Liste der "Literatur" zu Feuerbach schließt denn auch 1992, und der Verweis auf die Bibliografie in Jürgen Eckers Œuvrekatalog von 1991 [4] kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die zahlreichen jüngeren Publikationen, welche wichtige neue Erkenntnisse erbracht haben, gänzlich fehlen. Als Beispiele seien die auf umfangreichen Quellenrecherchen basierenden Beiträge von Daniel Kupper, der grundlegende Aufsatz von Carsten-Peter Warncke zu Feuerbachs Modernität, die Arbeiten von Helene Seifert und Ekkehard Mai zur "Medea" und die Untersuchung von Maria van Rijsingens über Feuerbachs Frauenbildnisse genannt. [5] Das Feigenblatt "nicht von Belang" jedenfalls kann das Fehlen keines der angeführten Beiträge rechtfertigen. Da in der Liste der Ausstellungen auch die erste Feuerbach-Ausstellung in Italien, 2000 in Livorno, und die zweite Retrospektive 2002 in Speyer fehlen, stellt sich ernsthaft die Frage nach der im Klappentext gepriesenen "Aktualität" der Publikation. Im Rahmen der geleisteten Arbeit wäre gerade in Hinblick auf die "Aushängeschilder" der Sammlung eine sorgfältige Endkontrolle geboten gewesen, zumal man sich bewusst war, "das Instrumentarium für weiterführende Forschung" (V) vorzulegen. Der Redaktionsschluss für einzelne Beiträge mag schon lange zurückliegen - man sollte sich dann aber nicht damit brüsten, die jüngsten Publikationen berücksichtigt zu haben. Wenn schon die Lücken in den 90er-Jahren evident sind und man meint, sie mit dem Verweis auf ältere Bibliografien schließen zu können, so hätte man auf den lexikalen Anspruch, den Baumstark wohlweislich im Vorwort nicht formuliert, verzichten sollen.

Es mag unangemessen erscheinen, einem Bestandskatalog Unvollständigkeit vorzuwerfen, zumal Bestandserfassung, Dokumentation und Abbildung dem Werk mehr als gerecht werden. Dem selbstformulierten Anspruch der Herausgeber aber entspricht das Ergebnis nicht: Die werkspezifischen Fakten und einen Einstieg ins Thema bietet der Bestandskatalog, als Nachschlagewerk ist er zweifelsfrei nützlich und gut aufbereitet. Wer aber dem Eigenlob vertraut und dieses Instrumentarium zur Grundlage seiner Arbeit machen will, wie dies bei Studierenden durchaus der Fall sein wird, dem sei zur Vorsicht geraten: Grundlegende Eigenrecherchen nimmt einem das selbst ernannte Lexikon nicht ab, die ausgewiesene "Aktualität" ist nicht am Erscheinungsjahr zu messen. Die in Stichproben herausgehobenen Mängel seien als Mahnung zum kritischen Umgang verstanden. Von der Benutzung des Katalogs wird deswegen auf keinen Fall abgeraten. Und so hofft die Autorin, dass ein anderer Kritiker die im Katalog enthaltenen Archivstudien und neuen Erkenntnisse zu weniger bekannten Künstlern positiver einschätzen kann und eingehend würdigt. Sie selbst stellt den Katalog ernüchtert ins Regal zurück.


Anmerkungen:

[1] Horst Ludwig (Bearb.): Malerei der Gründerzeit. Gemäldekataloge der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, Band 6, München 1977, 229ff. und 158ff.

[2] Roman Zieglgansberger: Hans von Marées als Bildnismaler. Frankfurt a. M. 2001 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 28, Band 380).

[3] Georg M. Blochmann: Zeitgeist und Künstlermythos: Untersuchungen zur Selbstdarstellung deutscher Maler der Gründerzeit ; Marees - Lenbach - Böcklin - Makart - Feuerbach (= Form und Interesse, Band 34) (Zugleich Köln, Univ., Diss., 1986) Münster 1991.

[4] Jürgen Ecker: Anselm Feuerbach. Leben und Werk. Kritischer Katalog der Gemälde, Ölskizzen und Ölstudien, München 1991.

[5] Daniel Kupper: Anselm Feuerbach. Reinbek bei Hamburg 1993; Carsten Peter Warncke: Anselm Feuerbachs poetische Sendung. Über die Modernität eines Idealisten, in: Bazon Brock und Achim Preiß: Ikonographia. Anleitung zum Lesen von Bildern. Festschrift Donat de Chapeaurouge, München 1990, 155-178; Helene Seifert: Anselm Feuerbach und die Antike. Neue Betrachtungen, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg, Band 31, 1994, 85-108. Ekkehard Mai: Innerlichkeit und Sinnlichkeit: Feuerbachs und Delacroix' "Medea" im Vergleich, in: Jenseits der Grenzen, Band 2. Kunst der Nationen, Köln 2000, 127-144; Miriam van Rijsingen: Melancholische spiegels : voorstellingen van gebrek en verlangen, vrouwelijkheid en kunstenaarschap in het werk van Anselm Feuerbach (1829-1880), Proefschrift Nijmegen 1999.

Doris H. Lehmann