Rezension über:

Ulinka Rublack: Die Reformation in Europa (= Europäische Geschichte), Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, 278 S., ISBN 978-3-596-60129-5, EUR 12,90
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Peter Burschel
Freiburg/Brsg. / Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Ute Lotz-Heumann
Empfohlene Zitierweise:
Peter Burschel: Rezension von: Ulinka Rublack: Die Reformation in Europa, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 11 [15.11.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/11/6180.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Wie schreibt man Reformationsgeschichte?" in Ausgabe 4 (2004), Nr. 11

Ulinka Rublack: Die Reformation in Europa

Textgröße: A A A

Am Anfang der vorliegenden Einführung stehen zwei Fragen: Wie gewannen die neuen reformatorischen Wahrheiten Einfluss? Und: Was bedeuteten diese Wahrheiten für die Menschen in ihrem Alltag? Beide Fragen lassen bereits erahnen, was sich dann Seite für Seite bestätigt: Ulinka Rublack hat die erste konsequent kulturanthropologisch orientierte Einführung in die Reformation (oder besser wohl: in die Reformationen) des 16. Jahrhunderts geschrieben. [1] Und es darf bereits an dieser Stelle gesagt werden: Sie hat das stil- und pointensicher, immer wieder überraschend, hier und da geradezu verstörend, souverän eigen-sinnig und nicht zuletzt beneidenswert mutig getan.

Die Suche nach einer Antwort auf die erste Frage beginnt die Verfasserin in Wittenberg, das kennen müsse - so ihre These -, wer den Erfolg Luthers verstehen wolle. Denn es seien die spezifischen (wenig komplexen) Strukturen der jungen Universitätskleinstadt gewesen, die es Luther ermöglichten, seine Macht- und Selbstdarstellungstechniken zu entwickeln und jene Netzwerke zu knüpfen, die der neuen Wahrheit rasch auch außerhalb Wittenbergs Gehör verschafften. Ohne Wittenberg kein charismatischer Reformator, keine reformatorische Bewegung, keine Reformation. Man muss diese These nicht teilen: Die Art und Weise aber, wie die Verfasserin die Gelehrtenkultur der Provinz - nicht zuletzt die Berufungspolitik - in den Blick nimmt, wie sie das Religionsgespräch als scheinkonsensuelles Instrument evangelischer Wahrheitsfindung entlarvt, wie sie der Frage nachgeht, welche kulturellen und emotionalen Praktiken religiöse Anhängerschaft schufen, und dabei die emphatische Revitalisierung der antiken männlichen Freundschaftsidee ins Spiel bringt, wie sie Wittenberg als Drehscheibe der Predigervermittlung vor Augen führt und wie sie schließlich im Rahmen der reformatorischen Kommunikations- und Legitimationsstrategien allen gegenläufigen Forschungstendenzen zum Trotz [2] die Bedeutung des gesprochenen Wortes hervorhebt - all das ist schlichtweg gekonnt.

So erfolgreich Luther war: Da die Wittenberger Wahrheit bekanntlich nicht jeden erreichte und selbst die, die sie erreichte, nicht auf ein und dieselbe Weise, wechselt die Verfasserin im zweiten Kapitel die Perspektive, um am Beispiel von Kaiser Karl V., Erasmus von Rotterdam, Ulrich Zwingli, Margarete von Angoulême und Navarra sowie Martin Bucer nach den "anderen Wahrheiten" im Europa der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu fragen. Was ihr dabei gelingt, sind eindringliche intellektuelle und spirituelle Porträts, die vor allem eines zu erkennen geben: Wer nach der europäischen Luther-Rezeption in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts fragt, fragt nach persönlichen Begegnungen, nach lokalen Interpretationskartellen, nach sozialem Milieu und politischer Kultur, nach Generationenkonflikt und Geschlechterordnung, kurz, nach komplexen Selektions- und Transformationsprozessen, die erkennen lassen, warum die Vernetzung der Reformationen in Europa alles in allem begrenzt blieb - und warum es schließlich mehr als einen Weg in den Protestantismus gab.

Was Wittenberg für Luther war, so die Verfasserin im dritten Kapitel, war Genf für Calvin. Ohne Genf kein Calvinismus. Calvinismus, das ist für die Verfasserin vor allem erneuerte Glaubenspraxis: eine "Religion des Anstands" - und eben deshalb erfolgreich. Indem es Calvin gelungen sei, den Menschen die christliche Ethik wieder als Ethik des guten Maßes und richtigen Verhaltens in Erinnerung zu rufen, habe er Vertrauen in ein "wahrhaft" mögliches christliches Leben geschaffen. Indem er diese Ethik darüber hinaus an ein institutionelles Programm geknüpft habe, sei er zum Propheten einer Ordnung des reinen Glaubens geworden, eines neuen Jerusalems, das diesmal nicht an der Elbe, sondern an einem Alpensee lag. Indem er es schließlich verstanden habe, seine Wahrheit über ein elaboriertes Netz von Korrespondenten, Kolporteuren und Missionaren zu verbreiten, sei die Religion des Anstands zu einer europäischen Religion geworden. Wobei die Verfasserin an französischen, niederländischen und ungarischen Beispielen zeigt, dass auch für den Calvinismus gilt: Wo auch immer er aufgenommen wurde, wurde er auf je eigene Weise - gruppen-, milieu-, geschlechts- und lebensstilabhängig - aufgenommen, ohne dabei problemlos auf Nenner wie Selbstkontrolle, Sinnenfeindlichkeit oder gar Rationalität gebracht werden zu können.

Das vierte und abschließende Kapitel ist ganz der zweiten Leitfrage der vorliegenden Einführung gewidmet: Was bedeuteten die neuen reformatorischen Wahrheiten für die Menschen in ihrem Alltag? Die Antwort der Verfasserin ist eindeutig: Indem der Protestantismus in all seinen Varianten dazu beitrug, Antichrist-, Teufels- und Vorsehungsvorstellungen zu intensivieren, habe er die frühneuzeitliche Welt bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts nicht etwa "entzaubert", sondern "überzaubert". Auch die Wortorientierung des Protestantismus habe den Glauben keineswegs entsinnlicht oder "rationalisiert", sei doch das Wort selbst - ob als Buch, Gebet, Predigt oder Gesang - in besonderer Weise sensualisiert, emotionalisiert, sakralisiert, ja, transzendiert worden. Protestantische Kirchenräume bestätigen diesen Befund ebenso wie protestantische Keramiken, Genrebilder, Porträts und Stadtansichten. Wohin die Verfasserin auch blickt - auf das Verhältnis von Pfarrer und Gemeinde oder das von Mann und Frau, auf die Wahrnehmung von Tugend oder die Erfahrungen von Zucht und Zeit - protestantische Lebensformen und Frömmigkeitspraktiken entziehen sich der Vorstellung von einer abstrakten Religion des Wortes.

Gleichzeitig aber geht die Verfasserin davon aus, dass diese Lebensformen und Frömmigkeitspraktiken protestantische Identitäten hervorbrachten, die ihrerseits an neue oder doch zumindest veränderte, jedenfalls alles andere als uniforme kulturanthropologische Deutungs- und Handlungsmuster gebunden waren - und die vielleicht gerade deshalb von der Verfasserin nicht näher identifiziert werden. Denn auch das zeigt die vorliegende Einführung: Wer nach diesen Mustern fragt, betritt über weite Strecken immer noch wissenschaftliches Neuland - und hat es zugleich mit jenen langfristigen Veränderungen kultureller "Sinnformationen" (Jan Assmann) zu tun [3], die es heute schwieriger erscheinen lassen als je zuvor, den "Ort" der Reformation in den bis weit ins späte Mittelalter zurückreichenden europäischen Reformprozessen adäquat zu bestimmen.


Anmerkungen:

[1] Zu dieser Perspektive vgl. jetzt auch Hans Medick / Peer Schmidt (Hg.): Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft - Weltwirkung, Göttingen 2004.

[2] Um nur ein besonders prägnantes Beispiel zu nennen: Johannes Burkhardt: Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517-1617, Stuttgart 2002.

[3] Vgl. Bernhard Jussen / Craig Koslofsky (Hg.): Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400-1600 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 145), Göttingen 1999.

Peter Burschel