Rezension über:

Dietrich Papenfuß / Volker Michael Strocka (Hgg.): Gab es das Griechische Wunder? Griechenland zwischen dem Ende des 6. und der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr.. Tagungsbeiträge des 16. Fachsymposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung veranstaltet vom 5. bis 9. April 1999 in Freiburg im Breisgau, Mainz: Philipp von Zabern 2001, XX + 438 S., 51 Tafeln, ISBN 978-3-8053-2710-7, EUR 81,00
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Rezension von:
Mischa Meier
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Sabine Panzram
Empfohlene Zitierweise:
Mischa Meier: Rezension von: Dietrich Papenfuß / Volker Michael Strocka (Hgg.): Gab es das Griechische Wunder? Griechenland zwischen dem Ende des 6. und der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr.. Tagungsbeiträge des 16. Fachsymposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung veranstaltet vom 5. bis 9. April 1999 in Freiburg im Breisgau, Mainz: Philipp von Zabern 2001, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 11 [15.11.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/11/6741.html


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Dietrich Papenfuß / Volker Michael Strocka (Hgg.): Gab es das Griechische Wunder?

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Der Sammelband vereinigt die Referate und Diskussionsbeiträge des 16. Fachsymposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung (Freiburg, 5.-9. April 1999). Mit der Leitfrage nach dem "griechischen Wunder" um 500 vor Christus versuchen die Herausgeber einerseits dem noch immer verführerischen Reiz zu entgehen, der von methodisch als obsolet stigmatisierten Konzepten einer griechischen Klassik ausgeht; andererseits wollen sie aber doch den Blick auf die auffällige und in der Tat weiterhin erklärungsbedürftige "Gleichzeitigkeit des Übergangs von der Tyrannis oder Oligarchie zur Demokratie, von dionysischen Kultgesängen zur künstlerisch gestalteten Tragödie, von der archaischen zur klassischen Kunst" (XIX-XX) lenken. Dementsprechend umfasst das Spektrum der Beiträge nicht nur althistorische Untersuchungen, sondern auch Arbeiten von Klassischen Philologen, Archäologen und Philosophen. Die gewohnte Zentrierung des Blicks auf Athen (und Sparta) im 5. Jahrhundert vor Christus konnte zwar nicht ganz vermieden werden; doch wurde der Rahmen erfreulicherweise erweitert durch Beiträge zu den neutralen Staaten in den Perserkriegen (Victor Alonso Troncoso, 365-375), zu Rhodos und der östlichen Doris (Ioannis Papachristodoulou, 253-260), zu Arkadien (James Roy, 263-275) und sogar Etrurien (Alessandro Naso, 317-325).

Dass den Perserkriegen eine entscheidende Rolle für die Entfaltung des "griechischen Wunders" zukommt, wird niemand bezweifeln. Fraglich ist jedoch, wie diese Rolle zu beschreiben ist, ob Differenzierungen im Einzelnen möglich sind und unter welchen Rahmenbedingungen die Perserkriege überhaupt eine derart gewaltige Wirkung entwickeln konnten, dass sie zumindest die griechische Geschichte des 5. Jahrhunderts vor Christus weithin zu überschatten vermochten.

Vor diesem Hintergrund hat der einleitende Beitrag von Peter Funke (1-16) programmatischen Charakter. Denn der Autor zeigt auf, dass die Abwehr der persischen Angriffe 490/80 keineswegs eine "Stunde Null" bedeutete; vielmehr seien die Perserkriege als Katalysator zu betrachten für die Entfaltung einer Dynamik, die schon im 6. Jahrhundert angelegt war: Bereits Maßnahmen der Tyrannen, die primär dem eigenen Machterhalt gedient hätten, hätten traditionelle Bindungen der Athener an einzelne Adelshäuser geschwächt und somit den Forderungen einer breiteren Schicht von Bürgern nach größerer politischer Partizipation Vorschub geleistet. Funke sieht folgerichtig in Solon, der Tyrannis und den kleisthenischen Reformen wichtige Etappen auf dem Weg zum "griechischen Wunder" in Athen. Konsolidierung im Innern und außenpolitische Erfolge hätten erst das nötige Selbstbewusstsein geschaffen, ohne das die Erfolge gegen die Perser - und damit die weitere Entwicklung im 5. Jahrhundert - kaum denkbar gewesen wären.

Noch weiter greift Christoph Ulf aus, der mit seinem Beitrag (163-180) den Weg für eine neue Sichtweise insbesondere des Adels und der 'Adelspolitik' im 5. Jahrhundert bahnen will, indem er den traditionellen Adels- beziehungsweise Aristokratiebegriff für die Dark Ages und die archaische Zeit in Frage stellt. Seinen Ausführungen zufolge seien nicht nur entsprechende Termini, sondern auch die dahinter stehenden Konzepte - Christoph Ulf lehnt zu recht insbesondere die Hypothese einer Entwicklung vom Königtum zur Adelsherrschaft in der griechischen Frühzeit als grundlose Spekulation ab - allzu sehr von Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert beeinflusst. Seine Folgerungen sind nicht ohne Sprengkraft: Eine einheitliche griechische Oberschicht seit den Dark Ages ist für ihn nicht erkennbar. Dieser rigorosen Sichtweise dürften jedoch archäologische Befunde widersprechen, die - bei aller Umstrittenheit der Deutung - doch wohl auf eine bereits stärkere soziale Stratifizierung schon in den Dark Ages hinweisen, als er annimmt. Wichtig bleibt jedoch sein Postulat, sich durch Begriffe wie 'Adel', 'Aristokratie', 'Oberschicht', 'Elite' und dergleichen nicht zu Vorstellungen von allzu großer Einheitlichkeit der damit bezeichneten Gruppen verleiten zu lassen. Dass es sich bei den entsprechenden griechischen Termini ohnehin um Selbstbeschreibungen und bei den dahinter stehenden Gruppen damit um Konstrukte handelt, zeigt William J. Slater (39-49).

Auf die zunehmende Bedeutung philosophischen Denkens um 500 vor Christus verweist Marian Wesoly (229-241), der den Aufschwung "einer rationalen Reflexion über die Natur aller Dinge durch die Hellenen" (229) vielleicht etwas zu emphatisch auf "die griechische Agonistik" im 6. Jahrhundert zurückführt. In diesem Zusammenhang erscheint es mir im Übrigen auch problematisch, vom 5. Jahrhundert als dem "Jahrhundert der Aufklärung in der griechischen Geschichte" zu sprechen, wie es Francesco Prontera in seiner Studie über Hekataios und die Erdkarte Herodots (127-134, hier 128) tut. Hier schimmern weiterhin ältere Vorstellungen von einer geradlinigen, vielleicht sogar teleologischen Entwicklung 'vom Mythos zum Logos' hervor, die durch neuere Forschungen widerlegt worden sind. [1]

Demgegenüber legt etwa Karl-Joachim Hölkeskamp anhand der Schlacht von Marathon dar, in welch starkem Maße zentrale Aspekte des "griechischen Wunders" letztlich konstruiert sind (329-353). Unter Rückgriff auf das insbesondere von Jan Assmann entwickelte Konzept des kulturellen Gedächtnisses zeigt er, dass der Sieg bei Marathon für die Griechen im Vergleich zu den Schlachten bei Salamis und Plataiai zunächst keine besondere Bedeutung besessen hat und dass erst seit den 460er-Jahren - vor allem durch die Ausgestaltung einer monumentalen 'Erinnerungslandschaft' in Athen eine Aufwertung dieses Ereignisses erfolgte, die in engem Zusammenhang mit dem zunehmenden athenisch-spartanischen Dualismus einerseits und den Hegemonieansprüchen Athens andererseits zu sehen ist.

Mit einem weiteren 'Mythos' der Perserkriegszeit beschäftigt sich William J. Cherf (355-361), der aufgrund geologischer Forschungen ältere Thesen zu unterstützen sucht, wonach die Schlacht bei den Thermopylen taktisch eher von geringer Bedeutung gewesen sei. Die Hauptarmee des Xerxes jedenfalls sei über den Dhema-Pass nach Zentralgriechenland durchgebrochen (eine These, die nicht durchgängig auf Zustimmung stößt [2]). Angesichts der chaotischen Verteidigungsmaßnahmen auf griechischer Seite bestehe das eigentliche "griechische Wunder" im Übrigen darin, dass man die Perserkriege überhaupt zu überstehen vermochte.

Als bedeutsame Manifestation des "griechischen Wunders" gilt vielfach die attische Tragödie. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind ihr mehrere Beiträge gewidmet: Egert Pöhlmann (401-415) untersucht den Einfluss der Auseinandersetzungen mit den Persern auf die Gattung Tragödie, die ihre Stoffe eigentlich dem Mythos entnahm. Mit den Perserkriegen wurde jedoch auch die Zeitgeschichte zum Sujet von Tragödien. Pöhlmann hebt hervor, dass - wenn man Versuche, aus Herodots Lyderlogos eine verlorene Kroisos-Trilogie zu rekonstruieren, ernst nimmt - in der Zeit von circa 500 bis 470 mindestens sechs Tragödien mit historischen Stoffen aufgeführt worden sein müssen -; ein deutliches Indiz für den Eindruck, den die Erfahrung der Perserkriege hinterlassen haben muss. Dennoch habe sich diese Öffnung der Tragödie für die Historie letztlich als "Sackgasse" (412) erwiesen, denn die Tragödie sei dann wieder zum Mythos zurückgekehrt - hierin sieht Pöhlmann das "griechische Wunder". In einem weiteren der Tragödie gewidmeten Beitrag fragt Ruth Scodel nach den Gründen für den Erfolg dieser Gattung im 5. Jahrhundert (215-225). Sie zeigt, dass die Tragödie seit ihren Anfängen unter der Tyrannis auf Außenwirkung im gesamten griechischen Raum angelegt gewesen ist und dass diese Konzeption sich auch für das 5. Jahrhundert noch aufzeigen lasse. Scodel sieht in der Tragödie ein rein athenisches Genos, das aber geschickt in allen griechischen Poleis bekannt gemacht worden sei, wodurch Athen wiederum seine kulturelle Vormachtstellung im 5. Jahrhundert demonstrieren konnte. Der von Scodel kurz aufgeworfenen Frage, ob der in der Regel angenommene Zusammenhang von Tragödie und attischer Demokratie tatsächlich bestanden hat (was vor einiger Zeit vor allem von Christian Meier mit Nachdruck bejaht worden ist [3]), widmet sich Kevin H. Lee (77-86), der am Ende seiner Ausführungen zu einem positiven Ergebnis gelangt. Die Frage bleibt indes weiterhin umstritten, wie aus einer neueren Arbeit von Peter J. Rhodes hervorgeht. [4] Hellmut Flashar schließlich analysiert das berühmte Chorlied "Vieles Gewaltige lebt ..." aus der 'Antigone' des Sophokles und kritisiert dessen eigenwillige Deutung durch Martin Heidegger als Resultat einer philologisch fragwürdigen Übersetzung.

Auch die archäologischen Beiträge befassen sich vor allem mit dem "griechischen Wunder" in Athen, wie etwa die Studie von H. Alan Shapiro, der darlegt, dass entscheidende Veränderungen bei den Akropolis-Weihungen nicht mit dem Ende der Tyrannis und den kleisthenischen Reformen, sondern erst nach 479, also nach den Perserkriegen, einsetzen, und der damit Peter Funkes These längerer Entwicklungslinien seit dem 6. Jahrhundert aus archäologischer Sicht - zumindest an einem Einzelbeispiel - nicht zu bestätigen vermag.

Das nahezu durchgängig hohe Niveau der in diesem Sammelband vereinigten Beiträge ist bestechend. Die Lektüre ist nicht nur ein intellektuelles, sondern auch - aufgrund der üppigen Ausstattung des Buches - ein optisches Vergnügen.


Anmerkungen:

[1] Verwiesen sei etwa auf Glenn W. Most: From Logos to Mythos, in: Richard Buxton (Hg.): From Myth to Reason? Studies in the Development of Greek Thought, Oxford 1999, 25-47; ders.: Vom Logos zum Mythos, in: Martin Korenjak / Karlheinz Töchterle (Hg.): PONTES I. Akten der ersten Innsbrucker Tagung zur Rezeption der klassischen Antike, Innsbruck / Wien 2001,11-27

[2] Siehe etwa Karl-Wilhelm Welwei: Sparta. Aufstieg und Niedergang einer antiken Großmacht, Stuttgart 2004, 372, Anm. 16.

[3] Christian Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988.

[4] Peter J. Rhodes: Nothing to Do with Democracy: Athenian Drama and the Polis, in: Journal of Hellenic Studies 123 (2003), 104-119; siehe auch Simon Goldhill: Civic Ideology and the Problem of Difference: The Politics of Aeschylean Tragedy, Once Again, in: Journal of Hellenic Studies 120 (2000), 34-56.

Mischa Meier