Rezension über:

Thomas DaCosta Kaufmann: Toward a Geography of Art, Chicago: University of Chicago Press 2004, XIV + 490 S., 91 halftones, ISBN 978-0-226-13311-9, USD 65,00
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Rezension von:
Stefan Troebst
Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Troebst: Rezension von: Thomas DaCosta Kaufmann: Toward a Geography of Art, Chicago: University of Chicago Press 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 11 [15.11.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/11/7364.html


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Thomas DaCosta Kaufmann: Toward a Geography of Art

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Die heute in der Geschichtswissenschaft vor allem zu Vergleichszwecken gebräuchlichen geschichtsregionalen Konzeptionen vom Typus "Mittelmeer", "Ostseeraum", "Balkan", "Kaukasus" oder "Atlantische Welt" gehen historiographiegeschichtlich sämtlich auf eine eindringliche und konstruktive Diskussion ostmitteleuropäischer Historiker in der Zwischenkriegszeit über Sinn und Unsinn einer den vorwissenschaftlichen Untersuchungsrahmen "Slaventum" ersetzenden Geschichtsregion "Osteuropa" zurück. Geografisch gesehen meinten die Protagonisten Oskar Halecki und Marceli Handelsman aus Polen sowie Jaroslav Bidlo und Joseph Pfitzner aus der Tschechoslowakei mit "Osteuropa" den historischen Raum zwischen den deutschen und russischen Reichsbildungen, also die Osthälfte Zentraleuropas. In den Fünfzigerjahren prägte dann Halecki im US-amerikanischen Exil für dieses außerrussische Osteuropa beziehungsweise nicht-deutsche Mitteleuropa den Terminus "East Central Europe" ("Ostmitteleuropa"), und vom Ende der Sechzigerjahre an konzipierten deutsche Historiker wie Mathias Bernath und Klaus Zernack parallel hierzu "Südosteuropa" und "Nordosteuropa" als Geschichtsregionen. In der deutschsprachigen historischen Osteuropaforschung steht "Osteuropa" heute allerdings als Oberbegriff für die drei genannten, gleichsam sekundären Geschichtsregionen "Ostmittel-", "Südost-" und "Nordosteuropa" samt dem imperial-eurasischen Sonderfall "Russland".

Ebenso wie in der historischen Forschung die gesonderte Geschichtsregion "Ostmitteleuropa" den Ausgangspunkt für das Nachdenken über geschichtsregionale Konzeptionen im Allgemeinen bildet, ist auch in der neueren kunsthistorischen Forschung über das, was der polnische Kunsthistoriker Jan Białostocki "Kunstregionen" ("artistic regions") genannt hat [1], ein mit dem "Ostmitteleuropa"-Begriff der Geschichtswissenschaft weitgehend deckungsgleicher "Ostmitteleuropa-" beziehungsweise "East Central Europe"-Terminus samt gleichnamiger kunstregionaler Konzeption in den Fokus gerückt, und dies in kritischer Anknüpfung an das in der Zwischenkriegszeit in Deutschland entwickelte (und stark deutschtumszentrierte) Konzept von "Kunstgeografie". So exemplifizierte 1993 der slowakische Kunsthistoriker Jan Bakoš "die Vorstellung von Ostmitteleuropa als einer Kunstregion" am Beispiel mittelalterlicher Malerei und Bildhauerei seiner Heimat [2], eine 1998 in Norwich stattfindende Tagung über "Grenzen in der Kunst" überprüfte den Ansatz der "Kunstgeografie" an ostmitteleuropäischen Fallbeispielen [3], und Marina Dmitrieva-Einhorn beantwortete unlängst die Frage "Gibt es eine Kunstlandschaft Ostmitteleuropa?" überwiegend positiv. [4]

Auch die anzuzeigende monografieähnliche Aufsatzsammlung des in Princeton lehrenden Kunsthistorikers Thomas DaCosta Kaufmann geht ganz wesentlich von der intensiven Beschäftigung ihres Autors mit der Geschichte von Kunst und Kultur im östlichen Mitteleuropa aus. [5] Dabei ist sein Buch de facto eine Überarbeitung einer Reihe bereits veröffentlichter Aufsätze, denen weitere Studien zur Seite gestellt und synthetisierende Texte beigefügt wurden. Gemeinsamer thematischer Nenner ist der räumliche Bezug von Architektur- und Kunsttrends, -schulen, -gattungen und -transferprozessen im neuzeitlichen Europa, Lateinamerika und Japan. Der Schwerpunkt liegt dabei auf derjenigen europäischen Teilregion, die der Autor teils "(East) Central Europe", teils "Central and Eastern Europe", mitunter auch "Middle East or Central Europe", nennt.

In seiner Einleitung führt der Autor das von ihm geteilte neue Interesse der Kulturwissenschaften an der Kategorie Raum ursächlich auf die Veränderungen im Osten Europas seit 1989 zurück, was ihm zufolge zugleich das spezifische Interesse an eben dieser Teilregion erklärt. Sein Verweis etwa auf das Nach-Wende-Interesse Schwedens an den baltischen Staaten, welches unter anderem eine explosionsartig intensivierte Beschäftigung schwedischer (Kunst-)Historiker mit der Ostseeregion und ihrem schwedisch-imperialen Erbe auslöste, stellt ein gewichtiges Argument für diese Sichtweise dar (10).

DaCostas Essaysammlung zum "spatial (re)turn" in der internationalen Kunstgeschichtsforschung ist in vier Teile gegliedert, deren erster - "Historiography" - drei Texte zur Geschichte raumbezogener Kunstgeschichtsschreibung von der Antike bis ins 20. Jahrhundert versammelt, der zweite - "Europe" - ebenfalls drei (ost-)mitteleuropäische Fallbeispiele präsentiert, der dritte - "The Americas" - dasselbe für Lateinamerika tut, und zwar erneut in drei Beiträgen, und der vierte schließlich - "Japan: The Limits of Diffusionism" - aus einem einzelnen Text zum europäischen Kunsttransfer nach Asien besteht.

Während Ostmitteleuropa in den Kapiteln 3, "From Kunstgeographie to Visual Culture: Geographical Ideas about Art from the First World War to the Present", und 4, "Identity in Artistic Geography? Some Considerations of Early Modern Europe", mitunter firmiert und Kapitel 6, "Dimensions of Diffusion - The Example of Italian Sculptors and Sculpture outside Italy (Chiefly in Central Europe): Problems of Approach, Possibilities of Reception", einen spezifischen Aspekt des Kulturtransfers nach Mitteleuropa behandelt, stellt Kapitel 5, "Artistic Regions and the Problem of Artistic Metropolises: Questions of (East) Central Europe", eine veritable Begründung der Kunstregion Ostmitteleuropa dar. Der Autor erweitert hier die gängigen kunsthistorischen Regionalisierungsmuster "urbanes Zentrum/Metropole" (Florenz, Venedig und andere) und "(innerstaatliche) Region" (Flandern, Mähren und so weiter) in Richtung "supranational(staatlich)er Entitäten" vom Typus "Ostmitteleuropa". Ausgehend von der Frage "Gibt es eine Kunstmetropole in (Ost-)Mitteleuropa?" definiert er das Fehlen einer solchen Metropole im Raum zwischen St. Petersburg auf der einen und Wien wie Berlin auf der anderen Seite als gleichsam negatives Strukturmerkmal der europäischen Kunstregion Ostmitteleuropa. Dabei zieht er - mitunter gewagte - Parallelen zu den wirtschaftshistorischen Zentrum-Peripherie-Modellen europäischer und globaler Geschichte Fernand Braudels und Immanuel M. Wallersteins. Als weiteres Charakteristikum im kunsthistorischen Merkmalscluster "Ostmitteleuropa" führt er intensive Austauschbeziehungen innerhalb des östlichen Zentraleuropa, imperiale Integrationsprozesse mit unifizierenden kunstpolitischen und künstlerischen Kollateralwirkungen - Stichwort: Jagiellonendynastie auf den Thronen Krakaus, Prags und Budapests 1450-1550 -, die Rolle der Religion bezüglich der Präferenz für bestimmte und damit regional dominante Kunstgattungen sowie nicht zuletzt nachhaltig prägende Transferbeziehungen aus anderen Kunstregionen Europas, vor allem aus Italien und den Niederlanden, nach Ostmitteleuropa hinein an.

Das Buch verfügt über ein detailliertes Register, das indes den über hundert Buchseiten starken Anmerkungsteil nicht erschließt. Eine Bibliografie fehlt gänzlich, und der Endnotenteil füllt diese Lücke nur notdürftig. Orthografie und Grammatik der hier zahlreich aufgeführten Titel in deutscher, schwedischer, polnischer und anderen Sprachen sind mitunter fehlerhaft, etwa wenn Eduard Mühle zu "Mühlack" mutiert (387). Die Qualität der Schwarz-Weiß-Abbildungen ist mäßig, was indes durch ihren außerordentlich informativen Charakter kompensiert wird. Vor allem die vom Autor analysierten Transferprozesse werden dadurch eindringlich visualisiert.

Obwohl primär an eine kunsthistorische Leserschaft gerichtet, ist DaCosta Kaufmanns kohärente Essaysammlung ein gewichtiger Beitrag zur Kulturgeschichtsschreibung insgesamt. Dabei transzendiert er seine konkreten Gegenstände, also die Kunstgeschichte Europas, der Amerikas und Japans, in Richtung einer Theorie historischer Kunstregionen. Wie der Titel seines Buches zu Recht andeutet, ist dieses Ziel - wie in der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu geschichtsregionalen Konzeptionen auch - noch nicht erreicht, aber fest in den Blick genommen.


Anmerkungen:

[1] Jan Białostocki: The Baltic Area as an Artistic Region in the 16th Century. In: Hafnia. Copenhagen Papers in the History of Art 4 (1976), 11-22. Siehe auch derselbe: The Art of the Renaissance in Eastern Europe: Hungary - Bohemia - Poland. London 1976.

[2] Jan Bakoš: The Idea of East Central Europe as an Artistic Region in 14th-Century Painting and Sculpture in Slovakia. In: Thomas W. Gaethgens (Hg.): Künstlerischer Austausch - Artistic Exchange. Akten des XXVIII. Internationalen Kongresses für Kunstgeschichte. Berlin 15.-20. Juli 1992. Bd. 2, Berlin 1993, 51-64.

[3] Vgl. dazu den Tagungsband: Katarzyna Murawska-Muthesius (Hg.): Borders in Art: Revisiting Kunstgeographie. Warszawa 2000.

[4] Marina Dmitrieva-Einhorn: Gibt es eine Kunstlandschaft Ostmitteleuropa? Forschungsprobleme der Kunstgeographie. In: Robert Born / Alena Janatková / Adam S. Labuda (Hg.): Die Kunsthistoriographien in Ostmitteleuropa und der nationale Diskurs. Berlin 2004, 121-137.

[5] Siehe vor allem Thomas DaCosta Kaufmann: Court, Cloister & City. The Art and Culture of Central Europe, 1450-1800. Chicago, IL, 1995 (deutsche Ausgabe: Klöster, Höfe, Städte. Kunst und Kultur in Mitteleuropa, 1450-1800. Köln 1998). Zum Blick des Autors auf Ostmitteleuropa als ein Paradigma europäischer Kunstgeschichtsforschung siehe derselbe: Die Geschichte der Kunst Ostmitteleuropas als Herausforderung für die Historiographie der Kunst Europas. In: Born, Janatková, Labuda (Hg.): Die Kunsthistoriographien in Ostmitteleuropa (wie Anmerkung 4), 51-62.

Stefan Troebst