Michael North: Genuß und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, VIII + 306 S., ISBN 978-3-412-11003-1, EUR 26,90
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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
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Besitzen Menschen, die silberne Teekannen benutzen, auch Gemälde? Gehen wohlhabende Witwen, die mehrere Nussbaumkommoden ihr eigen nennen, ins Theater? Findet man den Kunsttheoretiker und Connaisseur nachmittags im Kaffeehaus und ist seine Gattin Abonnentin des "Journal des Luxus und der Moden"? Würde das Mitglied einer Lesegesellschaft sich ein Landhaus mit Garten vor der Stadt zulegen? Sind adelige Damen eher geneigt, sich dem Sammeln von Kunst zuzuwenden, wenn ihre Reputation leicht beschädigt ist? Und tragen sie bei der Auswahl von Gemälden Kleider nach der französischen oder der englischen Mode? Sind Reiseandenken Kulturkonsumgüter?
Wenn Michael North im Vorwort seines Sammelbandes zum Kulturkonsum (und damit, möchte man hinzufügen, zur Konsumkultur) des 18. Jahrhunderts davon spricht, dass sich vermutlich nie zuvor derartig viele Menschen dem Genuss und der Ausübung von Mode und Musik, bildender Kunst und Literatur, Genussmitteln und Geselligkeit, also einer stetig wachsenden materiellen wie immateriellen Kultur hingaben wie im Europa während des Zeitalters der Aufklärung, spricht er damit zumindest für den deutschsprachigen Raum zugleich eine Forschungslücke an. Diese verspricht sein Band in Teilen zu schließen, und zwar als Einführung in verschiedene Aspekte des neuen Phänomens 'Konsumkultur' in ausgewählten Handels-, Residenz- und Universitätsstädten des Alten Reiches. Nebeneinander stehen daher Beispiele von deutschen Provinzhöfen wie Weimar, den vom Außenhandel geprägten urbanen Zentren Hamburg, Frankfurt oder Leipzig und akademisch geprägten Städten wie Göttingen.
Margaretha Barbara Tanner, Witwe des Dr. Ludwig Gottfrid Tanner in Frankfurt am Main, besaß bei ihrem Tod genug Porzellan und Silber, um eine vielköpfige Gästeschar nicht nur mit den modischen Genussmitteln Kaffee, Tee und Schokolade zu versorgen, sie konnte dies auch in den wohlausgestatteten Räumen einer weitläufigen Wohnung tun. Ihre dreizehn Zimmer ließen eine Trennung zwischen den Sphären öffentlicher Geselligkeit und privaten Wohnens zu und boten potenziellen Besuchern überdies einen ausführlichen Blick auf den zur Schau gestellten materiellen Wohlstand. Ihr Nachlassinventar von 1775 zählt Zuckerdosen, Silberlöffel und dergleichen auf; leider erfahren wir aus dieser Quelle nichts über ihre präferierten Formen der Unterhaltung, die eine Handelsmetropole wie Frankfurt im ausgehenden 18. Jahrhundert bot. Von Barthold Heinrich Brockes und Christian Ludwig von Hagedorn in Hamburg erfahren wir, dass sie die Rollen des Kulturkonsumenten mit der des Kulturproduzenten verbanden; der eine als Ratsherr und Dichter, der andere als Kunstsammler und Kunsttheoretiker. Die Werke des einen standen in der Bibliothek des anderen; aus Hagedorns Korrespondenz lassen sich seine sammlerischen Vorlieben nachzeichnen. Im Stuart'schen Kaffeehaus auf dem Ness finden wir beide in der Gesellschaft der Wundärzte, Pastoren, Kaufleute und Gelehrten der Stadt. Es ist anzunehmen, dass die Markgräfin Karoline Luise von Baden in Karlsruhe ihre Schokolade aus einer Porzellanschale ostasiatischer oder einheimischer Provenienz nahm, wenn sie seit den späten 1750er-Jahren über die Erweiterung ihres "Mahlerey-Cabinets" nachsann und Aufträge zum Erwerb niederländischer und flämischer Gemälde bei Versteigerungen in Paris oder Den Haag erteilte. Auch noch etwa zwanzig Jahre später entsprach die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts dem Zeitgeschmack; Henriette Amalie von Anhalt-Dessau, wegen einer unstandesgemäßen Liebesgeschichte im Exil in Bockenheim, erwarb sie auf lokalen Frankfurter Auktionen aus privaten Sammlungen.
Der Aufbau des Buches folgt in groben Zügen John Brewers Standardwerk zur Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts in England, "The Pleasures of the Imagination" (1997), indem North in Einzelkapiteln die großen Themen absteckt, von Buch und Lektüre, über Reisen und Reisekultur, Mode und Luxus, Wohnkultur (aber nicht Architektur), Gärten und Landhäuser, bildende Kunst und Geschmack, Musikkultur, Theater und Oper bis zu den neuen Genussmitteln und zur Geselligkeit. Dabei versucht North, den materiellen Konsumgütern, den Büchern, Bildern, Jacken, Hüten, Kleidern, Tassen, Tellern und Blumenzwiebeln ebenso auf der Spur zu bleiben wie dem immateriellen Konsum, der Kunst- und Geschmackstheorie oder der individuellen wie nationalen Identitätsfindung beim Reisen. Faszinierend ist die Vielzahl und die Vielfalt der Quellen, die sich zur Untersuchung der Konsumkultur anbieten, seien es nun Nachlassinventare, Tagebücher, kunsttheoretische Schriften, Anzeigen in den zeitgenössischen Printmedien oder Romane. Allerdings würde diese Rezensentin im Gegensatz zum Autor davon absehen mit dem heutigen Begriff des 'life-style' zu operieren. Angesichts des wortwörtlich aufklärerischen Impetus und des hohen pädagogischen Ernstes, mit dem man der Fülle und dem ständig wachsenden Angebot von Kultur und Konsumartikeln begegnete, arbeitete man offenbar an einem umfassenden Lebensstil, der mehr der Lebensgestaltung und damit auch der moralischen Verbesserung dienen sollte, als einem rein hedonistischen, postmodernen Konzept.
Wie stark die Vorstellungen von Mode und Luxus gerade in Deutschland bei Hof wie in der Stadt von einem internationalen Austausch, von der Nachahmung kosmopolitischerer Gesellschaften wie der englischen und dem entstehenden Welthandel abhingen, lässt sich am Beispiel der Genussmittel Kaffee, Tee und Schokolade ebenso zeigen wie anhand der Gefäße, in denen sie serviert oder der Gartenanlagen, in denen sie eingenommen wurden. Im Gegensatz zu John Brewers notwendigerweise weitgehend auf London als Zentrum eines Weltreiches konzentrierten Darstellung, erscheint 'Deutschland' in Norths einführender Studie notwendig als Mosaik höchst diverser Mikrokosmen, in denen Vergleiche nur auf der Ebene vergleichbarer Strukturen, das heißt zwischen höfisch geprägten oder auf den internationalen Handel orientierten urbanen Zentren möglich sind.
Angesichts der regionalen und politischen Aufsplitterung des historisch-geografischen Raumes, den North behandelt, wünscht man sich als Rezensentin zuweilen eine stärker an einer Art Typologie des Kulturkonsumenten orientierte Darstellung, die durchaus biografisch-porträthaft angelegt sein könnte und für die es bei einigen der von North vorgestellten Personen bereits Vorarbeiten gibt. Aus der Perspektive der Kunstgeschichte erschiene es wünschenswert, die statistischen Daten, die sich aus der Auswertung von Nachlassinventaren oder Versteigerungskatalogen privater Kunstsammlungen ergeben, im Hinblick auf die Ergebnisse der Provenienzforschung, den Fragen nach Kennerschaft, dem Verhältnis von Original und Fälschung, das heißt einem zeitgenössischen Konzept von Authentizität, der Rolle des entstehenden Kunsthandels und der Persönlichkeiten der Händler, sowie den Fragen von Präsentation und Verbreitung zu problematisieren, zu präzisieren und fruchtbar zu machen.
Zuweilen ergeben sich im Laufe der Darstellung etwas kuriose Schlussfolgerungen, wie im Kapitel zu Mode und Luxus die Vorstellung, Goethe habe in Neapel im Hause des britischen Gesandten und Kunstsammlers Sir William Hamilton dessen Geliebte und spätere Frau Emma Hart beim Vorführen "griechischer Kleider" beobachtet. Bei aller glaubhaft überlieferten Attraktivität der Dame dürfte eine bloße Modenschau Goethe weniger gefesselt haben als der genussvolle Konsum der Aufführung von Emma Hamiltons europaweit gerühmten "Attitüden", die Zeitgenossen mit der pygmalionesken Verlebendigung von Hamiltons Vasensammlung verglichen. Antikes Kunstideal, erotische Attraktion und Genuss der eigenen Bildung beim Wiederkennen der lebenden Bilder dürften sich hier die Waage gehalten haben.
Die Fülle der angerissenen Themen macht neugierig auf eine genauere Untersuchung einzelner Aspekte, sei es nun der Zusammenhang der modischen (das heißt sartoriellen) Entwicklung mit der Textilindustrie, von der Herkunft der Kleiderstoffe bis zu den Urhebern ihrer Muster, oder die Ausdifferenzierung bürgerlicher Wohnräume, die eine entsprechend differenzierte Möblierung nach sich zog und offensichtlich neuentstehende Gewohnheiten in Privatleben und Geselligkeit widerspiegelte. Interessant wäre auch das Verhältnis der inländischen Porzellanmanufakturen zum Import von Porzellanen und Keramiken, sei es aus dem europäischen Ausland oder aus Fernost. So wüsste man gern, ob man mehr japanisches oder chinesisches Porzellan verwendete, über welche Routen es transportiert wurde und ob es einen Zusammenhang mit den Teeimporten gab. Schließlich würde man sich eine eingehende Untersuchung der Rolle der Frauen, seien es nun der bürgerlichen wie der adligen, als Kulturkonsumentinnen wünschen, sowie der von North als wichtige Mittlerfiguren zwischen Hof und Stadt, zwischen Adel und Bürgertum, eingeführten "Funktionseliten", deren Rolle mit dem modischen Begriff des 'trendsetters' vermutlich zu kurz gefasst wäre.
Stephanie Tasch