Rezension über:

Mark Lehmstedt: Bücher für das "dritte Geschlecht". Der Max Spohr Verlag in Leipzig. Verlagsgeschichte und Bibliographie (1881-1941) (= Schriften und Zeugnisse zur Buchgeschichte. Veröffentlichungen des Leipziger Arbeitskreises zur Geschichte des Buchwesens; Bd. 14), Wiesbaden: Harrassowitz 2002, 300 S., ISBN 978-3-447-04538-4, EUR 38,00
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Rezension von:
Stephan Kellner
Bayerische Staatsbibliothek, München
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Kellner: Rezension von: Mark Lehmstedt: Bücher für das "dritte Geschlecht". Der Max Spohr Verlag in Leipzig. Verlagsgeschichte und Bibliographie (1881-1941), Wiesbaden: Harrassowitz 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 12 [15.12.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/12/4404.html


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Mark Lehmstedt: Bücher für das "dritte Geschlecht"

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Mark Lehmstedt ist ein durch zahlreiche Arbeiten zum deutschen Buch- und Verlagswesen des 18. bis 20. Jahrhunderts ausgewiesener Wissenschaftler. Er hat sich mit diesem Werk einem jener Programmverleger des 19. Jahrhunderts gewidmet, die heute nahezu unbekannt sind. Max Spohr (geboren 1850) hatte zunächst als Buchhändler gearbeitet und sich nach seiner Heirat 1881 in Leipzig selbstständig gemacht, bevor er 1888 begann, als Verleger tätig zu werden. Zwei Jahre vor seinem Tod 1905 übergab er den Verlag seinem Bruder Ferdinand (1856 - nach 1937), dessen Sohn Rudolf ihn noch bis 1941 führte. Bedeutend ist der Verlag aber lediglich in den ersten dreißig Jahren seiner Existenz gewesen.

Das spezifische Programm unterscheidet Max Spohr grundsätzlich von anderen Verlegern seiner Zeit: Er "interessierte sich für die Grenzgebiete menschlichen Lebens und Wissens" (17). Neue Religiosität, Spiritismus, Buddhismus waren ebenso Themen wie sexualreformerische Schriften; diese entwickelten sich rasch "zum quantitativ größten und, mehr noch, zum einflussreichsten Zweig der Spohrschen Verlagsproduktion" (38). Neben Schriften zum Liebes- und Sexualleben im Allgemeinen nahmen Werke zur Sexualaufklärung und insbesondere zur Empfängnisverhütung breiten Raum ein, einige davon erreichten zwischen acht und 28 Auflagen.

Mit dem 1893 gegründeten Tochterunternehmen "Kreisende Ringe" unternahm Spohr einen Versuch, theosophische Literatur auch optisch qualitätvoll zu präsentieren. Doch konnte der Inhalt mit der ambitionierten Gestaltung nicht gleichziehen, zudem verkauften sich die Titel schlecht, und so schlief das Experiment schon nach fünf Jahren wieder ein. Der Hauptteil von Spohrs Produktion blieb von der Aufmachung her Durchschnitt, nicht aber vom Inhalt.

Seine eigentliche Aufgabe fand Max Spohr als Pionier der Homosexuellenbewegung in Deutschland; dieses Themas nimmt sich Lehmstedts Darstellung ausführlich an (43-140). 1893 erschien mit der populären Aufklärungsschrift "Die Enterbten des Liebesglücks" von Otto de Joux (eigentlich: Otto Rudolf Podjukl) der erste in einer langen Reihe einschlägiger Titel. Drei Jahre später veröffentlichte Spohr zum ersten Mal eine Arbeit des Arztes Magnus Hirschfeld, der rasch zur Leitfigur der frühen deutschen Schwulenbewegung wurde. Damit "profilierte er sich als weltweit erster Verleger, der das Feld der Homosexualität systematisch pflegte" (68). Darüber hinaus engagierte sich Max Spohr für die Abschaffung des § 175 und war maßgeblich an der Gründung des Wissenschaftlich-Humanitären Komitees im Jahr 1897 beteiligt, der ersten Organisation zur Emanzipation der Homosexuellen. Es war nur logisch, dass auch das "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen", das sich wissenschaftlich allen Facetten der Homosexualität widmete und dessen erster Band 1896 herauskam, bei Spohr verlegt wurde. Neben solchen Titeln erschienen populäre Aufklärungsschriften und homosexuelle Belletristik; außerdem war seine Übersetzung sämtlicher Schriften Oscar Wildes bahnbrechend für dessen Rezeption in Deutschland.

Um Spohrs Leistung in ihrer Gänze würdigen zu können, führt Lehmstedt die zeitgenössische Situation vor Augen (43 f.). Die im ausgehenden 19. Jahrhundert veröffentlichten Arbeiten der Mediziner Richard von Krafft-Ebing und Albert Moll, in denen die Homosexualität pathologisiert wurde, stellten immerhin einen Fortschritt zur bis dahin üblichen Kriminalisierung dar. Die im Spohr'schen Unternehmen verlegten Schriften zur Homosexualität emanzipierten sich jedoch auch von diesem Ansatz. Sie führten einen Diskurs "jenseits des bislang öffentlich Denk- und Sagbaren" (43), denn sie standen mit ihrem Eintreten für die Anerkennung als eigenständige Lebensform am Beginn eines neuen Sprechens und Schreibens über Homosexualität.

Natürlich war ein derart grenzverletzendes, innovatives Programm immer bedroht von Zensur und Verbot (141-154). Erstaunlicherweise waren die Schriften über Sexualaufklärung häufiger davon betroffen als Texte zur Homosexualität. Hier war vor allem die belletristische Literatur gefährdet, was auch zeigt, wo die Grenzen des Sprechens über Schwulsein lagen.

Ein Genuss für sich ist die umfassende Verlagsbibliografie (163-288). Sie verzeichnet 801 zwischen 1883 und 1941 erschienene Drucke (557 Titel und 244 Nachauflagen beziehungsweise Teilbände). Für 491 Drucke gelang es dem Verfasser, in 48 in- und 4 ausländischen Bibliotheken mindestens einen Nachweis zu ermitteln. 373 dieser Titel konnten eingesehen werden, davon zeugen auch Hinweise auf alte Signaturen und Vorbesitzer. Ergänzt werden die bibliografischen Angaben durch Hinweise auf Verbote, sodass diese sowieso nicht trockene Auflistung zugleich als ein Stück Zensurgeschichte gelesen werden kann. Fast überflüssig zu sagen, dass der Band durch ein solides Namensregister erschlossen ist, das auch die Bibliografie umfasst (290-300); so sind die dort mühsam eruierten Daten gut greifbar.

Mark Lehmstedt hat mit seiner sehr sorgfältig erarbeiteten und durchgängig gut lesbaren Studie eine wichtige Verlegerfigur der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert der Vergessenheit entrissen und sie in ihrer ganzen Bedeutung in der Verlagslandschaft der Zeit positioniert. Max Spohr, der selbst nicht schwul war, gehört zu den zentralen Figuren der frühen Homosexuellenbewegung. Bislang lag der Fokus der Forschung auf den Programmverlegern der Belletristik, wie etwa die Arbeiten von Wolfram Göbel über Kurt Wolff (1975/2000) und Irmgard Heidler über Eugen Diederichs (1998) zeigen. Diese Sicht hat sich mit Lehmstedts Werk über Max Spohr erheblich erweitert. Nicht zuletzt ist diese Arbeit ein schönes Beispiel dafür, wie man eine Verlagsgeschichte trotz nicht gerade idealer Quellenlage anschaulich darstellen kann.

Stephan Kellner