Christian Jansen (Bearb.): Nach der Revolution 1848/49: Verfolgung - Realpolitik - Nationsbildung. Politische Briefe deutscher Liberaler und Demokraten 1849-1861, Düsseldorf: Droste 2004, LXV + 813 S., ISBN 978-3-7700-5252-3, EUR 98,00
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Gleich vorweg: Kritikpunkte gibt es bei dieser - auch in jedem Detail - geradezu vorbildlichen Edition nicht. Sie setzt die Reihe der Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien wieder einmal sehr positiv fort. Das gilt sowohl für den Inhalt als auch für die formal-editionstechnische Aufbereitung.
Zum Inhalt: Der Bearbeiter und Herausgeber der Briefe Christian Jansen - er lehrt an der Ruhr-Universität Bochum Neuere und Neueste Geschichte - schöpft aus dem großen Fundus seines Wissens über "Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche 1849-1867", so der Untertitel seiner 2000 erschienenen Habilitationsschrift über "Einheit, Macht und Freiheit". Ohne die intime Kenntnis der Zeitverhältnisse und des linksliberalen Milieus wäre eine solche Edition nicht möglich gewesen. Denn man muss die herausgegebenen Briefe zuerst einmal finden. Sie sind zum allergrößten Teil noch nicht veröffentlicht worden. Dazu hat der Verfasser eine Fülle von Materialien und Nachlässen verschiedenster Provenienz sichten müssen. Die Liste der herangezogenen, nicht nur im deutschsprachigen Raum angesiedelten Archive ist beachtlich.
Wenn gesagt wurde, die Briefe sind zum allergrößten Teil noch nicht veröffentlicht, heißt das nicht, dass nur Briefe unbekannter Autoren in die Edition aufgenommen wurden. Es befinden sich auch Briefe namhafter Verfasser darunter (zum Beispiel von Becker, Bamberger, Baumgarten, Duncker, Fröbel, Gervinus, Mommsen, von Rochau). Von diesen Autoren ist schon einiges vorher publiziert worden, aber die hier aufgenommenen Briefe in der Regel eben nicht. Jedoch wird auf schon bekannte, veröffentlichte Quellen eingehend verwiesen. Hier zeigt sich einer der Vorzüge der Edition: Sie füllt Lücken auf, ohne dass es zu wissenschaftlichen Doppelveröffentlichungen kommt. Zusammen mit den Verweisen entsteht für die Forschung ein aus vielen Mosaiksteinen sich aufbauendes und sich immer mehr vervollständigendes Bild des linksliberalen 1848er-Milieus in den nachfolgenden Zeiten der Reaktion und der Wende zur Realpolitik. Die vorliegende Edition hat daran einen gewichtigen Anteil.
Das personelle Geflecht der Linksliberalen wird sichtbar. Die Enttäuschungen, die vielfältigen Wandlungen der persönlichen Einstellungen so mancher wackerer Demokraten, aber auch ihr persönliches Beharrungsvermögen und die daraus resultierenden persönlichen Kosten, die Repression und Verfolgung mit sich brachten, werden hier vielfältig dokumentiert.
Anliegen der Edition ist jedoch nicht nur das im eigentlichen Sinn Politische. Vielmehr geht es ausdrücklich auch um die ganz persönlich-privaten Angelegenheiten der 1848er. Daher verzichtet die Edition weitgehend darauf, nur die politischen Passagen aufzunehmen und den Rest wegzukürzen. Die Briefe sind in der Regel vollständig ediert, und wenn dann doch gekürzt wurde, füllen aussagekräftige Inhaltsangaben die Auslassungen. So versteht sich die Edition auch als ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der Zeit von 1848 bis 1861. Damit ist sie im Einklang mit den gar nicht mehr so neuen Trends auch in der deutschen Geschichtswissenschaft, gleichermaßen von einer politikgeschichtlich oder sozialhistorisch dominierten Geschichtsbetrachtung wegzukommen.
Zur formal-editionstechnischen Aufbereitung: Der Wortlaut der Briefe ist nach den üblichen einschlägigen wissenschaftlichen Editionsprinzipien wiedergegeben. Üblich ist auch, dass man Kurzbiografien der Briefautoren und Briefadressaten beifügt. Nicht üblich ist jedoch die so gewissenhafte, so ausführliche Kommentierung der Textstellen vor dem jeweiligen zeitgenössischen Hintergrund und das Bemühen um Aufschlüsselung der vielfältigen, einem Außenstehenden oft schwer verständlichen Anspielungen - schwer verständlich nicht zuletzt deshalb, weil die Briefschreiber mit Recht fürchten mussten, dass ihre Briefe in die Hände der Obrigkeit geraten könnten. Spätestens bei dieser ebenso eingehenden wie schwierigen Kommentierung zeigt sich wieder einmal, dass nur ein intimer Kenner der Zeitverhältnisse und des linksliberalen Milieus dies leisten konnte.
Ein Personenregister, aber mehr noch das beigefügte Sachregister erleichtern ganz erheblich die Benützung des Werkes für nachfolgende Forschungen. Und in einem positiven Sinn unüblich auch wieder: Der Herausgeber weist ausdrücklich auf zwölf Forschungsfragen hin (XXI-XXII), auf die seine Edition gute Antworten geben könnte. Zukünftige Doktoranden und ihre Betreuer werden dankbar sein.
Eine Briefedition wie die hier vorliegende ist natürlich immer Torso und zugleich ein Steinbruch: Torso, weil eine noch so sorgfältige Auswahl immer eine Auswahl ist - allein schon aus Gründen der mehr oder weniger zufälligen Überlieferung von Quellen. Diese Schwierigkeit wird vom Herausgeber nicht verschwiegen. Steinbruch, weil viele dieses Werk als solchen unter ihren individuellen Forschungsinteressen mit Gewinn benützen werden.
Lässt man sich jedoch auf die Lektüre der 419 Briefe ein, dann entsteht nicht zuletzt wegen der schieren Anzahl der Schreiben, der Autoren, der Adressaten, der Themen, und auch weil die Briefe weitgehend ungekürzt und sorgfältig kommentiert wiedergegeben sind, ein sehr facettenreiches Bild der Zeit von der Revolution zur Realpolitik und zur Reichsgründung. Und nicht nur das: Folgt man den Thesen des Herausgebers, so wird auch die Offenheit der politischen Situation zwischen Revolution und Reichsgründung dokumentiert. Das preußisch dominierte Reich von 1871 ist eben nicht die einzige der denkbaren Möglichkeiten gewesen, die seit der Revolution 1848 drängenden Fragen nach der deutschen Einheit zu beantworten. Auch nicht bekannte, sachliche und personelle Kontinuitäten von der Revolution zur Reichsgründung werden sichtbar. So will diese Edition nicht zuletzt dazu beitragen, wieder einmal mehr die borussische Geschichtslegende zu entmythologisieren, nach der der preußische Beruf und das politische Genie Bismarcks es gewesen sein sollen, die den Deutschen ihr Reich und ihre Einheit gegeben haben.
Manfred Hanisch