Michael Epkenhans / Gerhard P. Groß (Hgg.): Das Militär und der Aufbruch in die Moderne 1860 bis 1890. Armeen, Marinen und der Wandel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Europa, den USA sowie Japan (= Beiträge zur Militärgeschichte; Bd. 60), München: Oldenbourg 2003, XXIX + 353 S., ISBN 978-3-486-56760-1, EUR 34,80
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In seiner letzten Rede vor dem Reichstag im Jahr 1890 hatte der greise Feldmarschall Helmut von Moltke die Dimensionen eines modernen Krieges deutlich vor Augen. Dieser "kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger werden, - und wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte in das Pulverfass schleudert!" Die Voraussetzungen für den Wandel des Kriegsbildes waren in den Jahrzehnten zuvor geschaffen worden. Sie bilden den Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Bandes, der die Ergebnisse einer internationalen Tagung unter Federführung des Militärgeschichtlichen Forschungsamts und der Otto-von-Bismarck-Stiftung präsentiert. Sein Thema ist die Konfrontation des Militärwesens mit der Moderne zwischen dem ersten industriellen Massenkrieg der Geschichte - dem Amerikanischen Bürgerkrieg - und dem zum Ausgang des 19. Jahrhunderts einsetzenden Wettrüsten auf den Weltmeeren.
Der Band beschränkt sich nicht auf rein militärgeschichtliche Fragestellungen, sondern informiert international vergleichend über das Verhältnis von Zivilgesellschaft, Politik und Militär in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dass einige Beiträge den vorgegebenen Betrachtungszeitraum in die eine oder andere Richtung verschieben, entspricht dem ungleichzeitigen Modernisierungsverlauf in Europa (Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Russland, Großbritannien), Japan und den USA. Die Herausgeber haben bewusst darauf verzichtet, die Beiträge in ein theoretisches Korsett zu zwingen. Wie Hans-Ulrich Wehler eingangs betont, sind die gängigen Modernisierungstheorien "nicht dafür geeignet, mit den Begriffen ihrer Kategorienwelt eine kurze Zeitspanne zu erfassen" (XXI). Die Autoren hatten so die Möglichkeit, den Modernisierungsbegriff pragmatisch auf ihr Thema zuzuschneiden.
Die drei umfangreichsten Kapitel gliedern die Fragestellung nach politischen, gesellschaftlichen und technologischen Gesichtspunkten auf, wobei allerdings nur Deutschland, Österreich-Ungarn und die USA durchgängig behandelt werden. Ein weiteres Kapitel untersucht die Musealisierung von Militärgeschichte. Einführende Kommentare zu den Kapiteln ermöglichen einen raschen Einstieg in das jeweilige Thema.
Das Verhältnis von Militär und Politik, dem sich das erste Kapitel widmet, war von Professionalisierungstrends und Herrschaftskonflikten gekennzeichnet. Die zunehmende Abhängigkeit der Regierungen von der Expertise militärischer Fachleute erhöhte langfristig deren Einfluss auf das politische Handeln. Anders als in Großbritannien und den USA rüttelten die Militärs in Deutschland am Primat der Politik, wenngleich sie vor der eigenen Forderung nach einem Präventivkrieg noch zurückschreckten. Eine andere Situation bot sich in Österreich-Ungarn und Russland, wo Reformen im Militärwesen jeweils von schweren militärischen Niederlagen angestoßen wurden. Die russischen Streitkräfte erlangten unter Miljutin zwar mehr professionelle Eigenständigkeit, stießen aber rasch an die Grenzen ihrer Modernisierungsfähigkeit. Sie blieben Spielball des Hofes und der Diplomatie. Dem "gekrönten Militärbürokraten Franz Joseph" (79) gelang dagegen die Vermittlung zwischen militärischem und zivilem Bereich. In Frankreich wiederum vermischte sich der Mythos der Revanche gegen Deutschland mit dem republikanischen Misstrauen gegen das Militär. Dies mündete "in eine erzwungene politische Akkulturation der Armee und eine enge Begrenzung ihrer politischen Rechte" (44).
Wie Stig Förster zu Beginn des zweiten Kapitels festhält, bildeten die im 19. Jahrhundert entstehenden Massengesellschaften einen "Resonanzboden für die Modernisierung der Streitkräfte" (121). Ausdruck und Katalysator dieser Entwicklung war die allgemeine Wehrpflicht. Das lässt allerdings nicht auf die Eignung des Militärs als Agent des Modernisierungsprozesses schließen. Von den untersuchten Beispielen konnte nur die amerikanische Zivilgesellschaft ihren Vorrang gegenüber der modernisierten Streitmacht behaupten. Dies lag auch am schlechten Image der Armee: Die "modernen Helden des Gilded Age waren Industriekapitäne, nicht Armeeoffiziere" (176). In Deutschland hingegen gewann das Militär nach den Reichsgründungskriegen an Prestige. Dass der "synthetische Militarismus", den Frank Becker dem Bismarckreich attestiert, in der wilhelminischen Epoche zu einem gesamtgesellschaftlichen Integrationsmodell avancierte, muss angesichts der "Klassengesellschaft im Krieg" (Jürgen Kocka) jedoch bezweifelt werden.
Die Bedeutung der kaiserlichen und königlichen Armee für den Bestand der Habsburgermonarchie beruhte unter anderem auf dem Umstand, dass sie eine der wenigen gemeinsamen Institutionen der Doppelmonarchie war. Da die 1868 eingeführte Wehrpflicht nicht konsequent umgesetzt werden konnte, war ihre Integrationskraft begrenzt, zumal sich die beiden Reichshälften zusätzlich noch eigene Streitkräfte leisteten. Auch die russische Armee wurde nicht zur Schule der Nation. Die Krisen nach der Jahrhundertwende zeigten, so Jan Kusber, "dass diese Säule der Autokratie nicht nur Mühe hatte, eine wie auch immer verstandene Ordnung zu bewahren, sondern dass sie schlichtweg selbst einzustürzen drohte" (166). In Japan, wo das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Militär lange austariert werden konnte, verschob sich das Machtgefüge nach dem Sieg über Russland 1905 indes deutlich zu Gunsten des Militärs. Warum dieser Beitrag, der ausdrücklich die "Beziehung zwischen Politik und Militärwesen" untersucht, in der Sektion "Militär und gesellschaftlicher Wandel" untergebracht ist, bleibt ungeklärt.
Das dritte Kapitel behandelt den rüstungspolitischen Umbruch in den Bereichen Verkehr, Waffentechnik und Kommunikation an den Schnittstellen zwischen Staat, Militär und Privatwirtschaft. Während Dieter Storz den Einfluss des technologischen Wandels auf Taktik und Strategie am Beispiel des Zündnadelgewehrs untersucht, erörtert Günter Kronenbitter die Probleme, die sich österreichischen Unternehmern beim Aufbau einer Massenproduktion von Rüstungsgütern stellten. Infolgedessen büßte die kaiserliche und königliche Armee bis 1914 im Vergleich zu anderen Streitkräften deutlich an Stärke ein. Großbritannien hingegen gelang es, die Verteidigung des Empires unter Einsatz relativ geringer Finanzmittel sicherzustellen. In den USA hatte die Marine bereits vor dem Bürgerkrieg Verbindungen zur Industrie geknüpft, um die Nutzung moderner Technik zu optimieren. Zwar bewegten sich die Rüstungsausgaben bis 1890 auf einem relativ niedrigen Niveau, doch auf lange Sicht wurden so die Grundlagen für die Herausbildung des militärisch-industriellen Komplexes gelegt.
Das Kapitel über das "Militärmuseum als moderner Lernort" passt in der dargebotenen Form nicht in das Konzept des Sammelbandes. Im Mittelpunkt steht hier das Geschichtsverständnis des 20. Jahrhunderts, die Phase zwischen 1860 und 1890 spielt lediglich in dem Beitrag von A. Wilson Greene über den Pamplin Historical Park, eine der beeindruckendsten Gedenkstätten des Amerikanischen Bürgerkrieges, eine zentrale Rolle. Ein weiterer Beitrag beschreibt, wie der vom National Maritime Museum in London unternommene Versuch, über innovative Ausstellungskonzepte neue Zielgruppen zu erreichen, öffentliche Deutungskämpfe über das historische Selbstbild der Nation provozierte. Der abschließende Text über das Bayerische Armeemuseum in Ingolstadt konzentriert sich auf den Ersten Weltkrieg. Die Begründung des Autors für diese Schwerpunktbildung - "weil in diesem Bereich die Qualität unserer Sammlung in Deutschland Spitze ist" (314) - hätten die Herausgeber nicht hinnehmen dürfen.
Der Tagungsband verdeutlicht, dass es den westlichen Demokratien - insbesondere Großbritannien und den USA - im Vergleich zu den autoritär regierten Ländern wesentlich leichter fiel, den Wandel des Militärwesens politisch zu steuern. Doch auch sie konnten sich dem "offenbar unauflöslichen Nexus zwischen technischer Moderne und dem Absturz in die Barbarei" (Hans-Ulrich Wehler) nicht entziehen. Dass die Vortragsform in einigen Beiträgen beibehalten wurde, mag der Lesbarkeit zugute kommen, doch hätte man sich von manchen Autoren umfassendere Analysen gewünscht. Das Kapitel zur Musealisierung von Militärgeschichte lässt indes mehr Fragen offen, als es beantwortet. Dennoch liefert der Band vielfältige Einblicke in eine wichtige Etappe auf dem Weg in das Zeitalter des industrialisierten Massenkrieges. Ihm ist deshalb Rezeption über den engeren Kreis der Militärgeschichte hinaus zu wünschen.
Nikolaus Buschmann