Reinhard Müller: Herbert Wehner - Moskau 1937, Hamburg: Hamburger Edition 2004, 570 S., ISBN 978-3-930908-82-0, EUR 35,00
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Als Günter Gaus im Jahre 1964 in einem seiner berühmten Fernsehinterviews "Zur Person" den damaligen stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Herbert Wehner fragte, warum er sich vom Kommunismus getrennt habe, antwortete dieser, entscheidend für diesen Schritt sei seine Erinnerung gewesen "an das, was ich an Leiden miterlebt und mitgesehen und mitzutragen gehabt habe in den Jahren des Terrors in der Sowjetunion. Ich habe darüber kein Buch geschrieben; ich kann es nicht. Ich habe es einfach mitgelitten und selbst erlebt." [1]
Inwieweit Wehner in den Jahren zwischen 1937 und 1941, die er als Kandidat des Politbüros der KPD in Moskau verbrachte, tatsächlich innerlich mit den Opfern des stalinistischen Terrors mitgelitten hat, werden wir wohl nie erfahren - was Wehner hingegen in diesen Jahren in der sowjetischen Hauptstadt erlebt hat und welche Rolle er selbst in der stalinistischen Verfolgspraxis spielte, ist seit der Öffnung der Archive in Moskau im Jahre 1991 sichtbar geworden. Reinhard Müller hat bereits 1993 wesentliche Dokumente aus Wehners Kaderakte aus dem ehemaligen Kominternarchiv veröffentlicht, die Wehner als einen Funktionär zeigen, der mit seiner Tätigkeit dem sowjetischen Geheimdienst in die Hände arbeitete. [2] Nun legt der Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung mit seinem Buch "Herbert Wehner - Moskau 1937" eine voluminöse Untersuchung vor, die Wehners Rolle als Täter im stalinistischen Terror detaillierter beschreibt. Auf Grund seiner beeindruckenden Kenntnis der ehemaligen Komintern- und NKVD-Archive kann Müller nachzeichnen, wie sich Wehner zunächst durch eine Vielzahl von Artikeln als linientreuer Stalinist profilierte, der unerbittlich gegen tatsächliche und vermeintliche Kritiker der parteioffiziellen Politik polemisierte und dadurch zu deren Stigmatisierung als Parteifeinde, "Schädlinge" und vermeintliche Gestapoagenten beitrug, bis er im Jahr 1937 zu einem diensteifrigen Informanten des NKVD wurde, der sich verpflichtete, den Geheimdienst eigenständig über angebliche Kontaktleute ausländischer Spionageorganisationen innerhalb der Komintern zu informieren.
In weiten Teilen vermittelt das aktuelle Buch von Müller allerdings weder grundlegend neue Erkenntnisse zu Wehner, noch zur Wirkungsweise des stalinistischen Terrors: Die wichtigsten Thesen finden sich bereits in der Wehner-Studie von 1993 und in der Darstellung "Menschenfalle Moskau", die Müller im Jahre 2001 veröffentlicht hat. [3] Der Erkenntnisfortschritt seiner neuesten Arbeit reduziert sich im Vergleich zu diesen Untersuchungen im Grunde auf den nun offensichtlich lückenlosen Nachweis sämtlicher Schriften Wehners in der kommunistischen Presse dieser Jahre, seien sie namentlich gekennzeichnet oder ihm durch Textvergleiche zuzuschreiben, und auf die These, dass Wehners "Trotzkismus-Expertise" vom Februar 1937 ausschlaggebend für die Verfolgung deutscher Kommunisten im Exil gewesen sei.
Müller wies schon 1993 überzeugend nach, dass Wehners autobiografische "Notizen" von 1946 [4] eine "Schönschrift" seiner tatsächlichen Rolle waren, die seine persönliche Mitschuld am Terror systematisch verdeckte. In dem vorliegenden Buch erhärtet Müller diesen Nachweis weiter. Die Überfülle an Details, die er in diesem Zusammenhang nun anhäuft, ermüden den Leser allerdings schon bald: Ab einem bestimmten Punkt wirkt jeder zusätzliche Beleg für Wehners Denunziationen und Mitwirkung an den stalinistischen Verfolgungen redundant. Müller bietet diese überbordende Faktenfülle aber offensichtlich vor allem deshalb auf, um endgültig jenen Biografen Wehners Paroli zu bieten, die nach wie vor dessen beschönigender Selbstdarstellung verhaftet sind, und ihre These zu demontieren, dieser sei nur passiv in den stalinistischen Terror "verstrickt" gewesen. Zuweilen wirkt es daher fast so, als habe Müller sein Buch in erster Linie mit Blick auf diese "Apologeten" geschrieben, mit denen er sich auch in seinem neuesten Werk zahlreiche Fußnotengefechte liefert. [5] In seinem Bemühen, ihrer Verharmlosung von Wehners Bedeutung für den stalinistischen Terror entgegenzutreten, schießt Müller jedoch über das Ziel hinaus: Der Text liest sich in weiten Strecken wie das Plädoyer eines Staatsanwaltes, der der Jury reihenweise Beweise und Indizien präsentiert und schließlich auf "schuldig" plädiert. Mit anderen Worten: Es geht in diesem Buch mehr um die persönliche Schuld Wehners als um die Funktionsweise des Stalinismus.
Wie sich diese Argumentationsweise auf das Buch auswirkt, lässt sich besonders deutlich an den Schlussfolgerungen ablesen, die Müller aus dem von ihm präsentierten "Schlüsseldokument" zieht, dem NKVD-Direktivbrief No. 12 "Über die terroristische Diversions- und Spionagetätigkeit der deutschen Trotzkisten im Auftrag der Gestapo auf dem Territorium der UdSSR" vom 14. Februar 1937. Durch ausführliche Textvergleiche kann Müller zwar nachweisen, dass sich viele Passagen dieses Vernichtungsbefehls, der eine massive Verfolgungswelle unter den deutschen Kommunisten im sowjetischen Exil auslöste, an einen Bericht anlehnten, den Wehner kurz zuvor für die Kaderabteilung der Komintern verfasst hatte. Nicht nachweisen kann Müller hingegen, dass Geheimdienstchef Nikolaj Ežov die Verfolgung der deutschen Kommunisten allein auf der Grundlage von Wehners Bericht gestartet hat (179 f., 193, 207), dass Wehner also der Initiator des Terrors gegen die deutschen Kommunisten gewesen ist: Der Terror gegen die deutschen Exilanten in Moskau erfasste bald weit mehr als die 45 Personen, die Wehner in seinem Bericht erwähnt hatte (und die teilweise für den sowjetischen Geheimdienst unerreichbar waren), und stand darüber hinaus im Zusammenhang mit der viel umfassenderen Verfolgungsaktion gegen deutsche Emigranten in der sowjetischen Rüstungsindustrie. Angesichts der von Müller selbst sorgfältig dokumentierten Zusammenarbeit zwischen der Kaderabteilung der Komintern und dem NKVD ist es zudem schwer nachzuvollziehen, warum der Geheimdienst ausgerechnet Wehners Informationen abgewartet haben sollte, ehe er die Terroraktion gegen deutsche Exilanten in Gang setzte, wo doch in den Akten der Funktionäre bereits ausreichend Material versammelt war, um sie als "Feinde" brandmarken zu können. Wehner war insofern ein Stichwortgeber des NKVD und Mittäter, aber nicht der Hauptverantwortliche für den Terror.
Diese Einschränkung schmälert nicht Wehners Mitverantwortung für den Terror - denn wie insbesondere seine Verpflichtungserklärung für den NKVD vom Dezember 1937 belegt, war er eifrig bemüht, dem Geheimdienst beim Aufspüren weiterer "Feinde" behilflich zu sein. Doch bewahrt sie davor, Wehner zu dämonisieren: Wie Müller in seinem Buch "Menschenfalle Moskau" nachgewiesen hat, entwickelte der Terror in der stalinistischen Sowjetunion gerade deshalb seine Dynamik, weil auch auf den unteren Ebenen zahlreiche Beteiligte den offiziellen Verschwörungsszenarien glaubten oder einfach persönliche Rechnungen zu begleichen hatten. Diese Aspekte kommen in Müllers neuem Buch zu kurz.
Anmerkungen:
[1] Herbert Wehner - der Traum vom einfachen Leben (Gesendet am 8. Januar 1964), in: Günter Gaus, Zur Person. Porträts in Frage und Antwort, München 1965, 154-172, hier: 163.
[2] Reinhard Müller, Die Akte Wehner. Moskau 1937-1941, Berlin 1993.
[3] Reinhard Müller, Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung, Hamburg 2001.
[4] Die "Notizen" waren von Wehner nach Kriegsende zunächst nur für einen engen Personenkreis verfasst und als Typoskript verbreitet worden. Nachdem in den 1960er-Jahren Raubdrucke erschienen waren, wurde 1982 eine autorisierte Fassung publiziert: Herbert Wehner, Zeugnis. Hrsg von Gerhard Jahn, Köln 1982.
[5] In erster Linie betrifft Müllers Kritik Hartmut Soell, auf den im Personenindex allein 21 Einträge verweisen, und August H. Leugers-Scherzberg, mit immerhin noch sieben Einträgen. Vgl.: Hartmut Soell, Der junge Wehner. Zwischen revolutionärem Mythos und praktischer Vernunft, Stuttgart 1991; August H. Leugers-Scherzberg, Die Wandlungen des Herbert Wehner. Von der Volksfront zur Großen Koalition, Berlin 2002.
Bert Hoppe